Der 1. Mai in Polen im Licht der aktuellen politischen Situation
Anlässlich des 1. Mai 2012 hat die in Polen lebende Anarcho-Syndikalistin Laure Akai in ihrem Blog eine schlaglichtartige Analyse der polnischen Gesellschaft und einer Reihe politischer und gewerkschaftlicher Strömungen im Angesicht der Krise veröffentlicht. Wir haben den Text übersetzt und dokumentiert, weil wir der Meinung sind, dass seine Inhalte nicht nur für LeserInnen interessant sind, die sich für die Lage in der Nachbarregion Polen interessieren. Vielmehr erscheint es uns so, dass manche der dargestellten Entwicklungen und Probleme auch für eine Diskussion der hiesigen Situation durchaus von Interesse sein könnten.
Am 1. Mai kamen verschiedene Teile des linken und rechten Spektrums auf die Straßen um zu demonstrieren. Aufgrund der momentanen Situation in Polen der vorherrschenden rechten Hegemonie, den Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse und dem mangelhaften Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, der hinter den Standards anderer europäischer Staaten extrem rückständig ist stellt sich die sozio-politische Situation in Polen momentan äußerst tragisch dar. Sozialer Widerstand regt sich kaum.
Als Teil einer kleinen organisierten Widerstandsgruppe werde ich im folgenden versuchen die Situation zu fokussieren, einen Blick in die Zukunft zu werfen und einen nüchternen Blick auf die rechtspopulistischen und rechtsradikalen Kräfte werfen, die im Verlauf der aktuellen Krise an Stärke gewinnen, während sich die Linke abquält und die antiautoritäre Bewegung sich in Zeiten sozialer Resignation versucht über Wasser zu halten.
Die alte linke Garde
Die alte Garde der Linken ist im post- kommunistischen Apparat der SLD erhalten geblieben, der ehemaligen herrschenden Partei, die darum bemüht ist mit einem Fuß im Parlament zu bleiben nach Jahren sinkender Popularität. Die SLD ist von alten Seilschaften durchsetzt und hat ihr wahres Gesicht bereits vor langer Zeit enthüllt: Einführung vieler neoliberaler Reformen, Flatrate Steuer für Unternehmen, Abtreibungsverbot, Unterstützung der USA beim Bau geheimer Gefängnisse durch die CIA, Entsendung von Truppen in den Irak, usw.. Das sind nur einige ihrer dreckigen Machenschaften.
Die Gewerkschaftsföderation OPZZ ist ebenso durch alte Seilschaften mit der SLD verknüpft und gemeinsam gehen sie am 1. Mai auf die Straße. Die OPZZ ist Teil der tri-paritätischen Kommission, welche die Rechte der ArbeiterInnen an die Sozialpartnern und die Regierung verschleudert. Obwohl viele Aktivisten an deren Basis wirklich gegen die Angriffe auf ihre Rechte sind, verhindern die OPZZ und die anderen tri-paritätischen Gewerkschaften (Solidarnosc und FZZ) Streiks und Arbeitskonflikte um jeden Preis. Gegenüber der erst kürzlich beschlossenen Erhöhung des Renteneintrittsalters regte sich kaum Widerstand.
Die Jugend der SLD, die Föderation Junger Sozialdemokraten, trat dagegen mit radikaleren Forderungen auf (welche sie von der ZSP-IAA kopierten).
Das liberale pseudo-linke politische Produkt
Unter den grotesken Spektakeln des 1. Mai war der Kongress der "Palikot Bewegung", eine politische Partei, die sich nach dem Dummkopf benannte, der sie gründete: ein millionenschwerer Geschäftsmann und Politiker der einst Mitglied in der herrschenden bürgerlichen (neoliberalen) Partei gewesen ist. Er bezeichnet sich jetzt selbst als liberal und versucht mitunter als Linker durchzugehen.
Palikot unterstützte kürzlich die Erhöhung des Renteneintrittsalters in Polen und war gegen die Erhöhung des Mindestlohns. In der Vergangenheit hat er sich für eine Flatrate Steuer unabhängig des Einkommens eingesetzt; er tat alles dafür Gewerkschaftsrechte zu beschneiden, etc. etc.. Der Aufstieg der Palikot Bewegung ist eng mit dem Versuch verknüpft die alte linke Garde aus dem Rennen zu drängen. Es sind Leute, die für eine neue liberale Bewegung sind und solche die für eine seichte Opposition plädieren.
Es gab schon einmal einen finanziell geförderten Versuch die alte Garde durch ein liberales linkes Produkt (Krytyka Polityczna) zu verdrängen, doch die Bildung einer Partei mit Anhängerschaft gelang ihnen nicht. Palikot versucht diese Nische auszufüllen. Durch die Unterstützung verschiedener Lebensstile, die weder von den Rechten noch von der alten linken Garde angesprochen werden (Marihuana Konsum, Anti-Klerikalismus, Rechte von Schwulen) gewann die Palikot Bewegung die Liberalen, die bislang über keine politisch Stimme verfügten.
Einige Linke sprangen auf den Zug der Reichen auf und es gelang ihnen einige Sitze bei den letzten Parlamentswahlen zu gewinnen. Die Palikot Bewegung gab einige unaufrichtigen Erklärungen von wegen "Korrektur des Kapitalismus"von sich, während sie dessen Angriffe praktisch unterstützt.
Opportunistisches Chamäleon in Rot
Das ist der einzige Weg um die neue Linke zu beschreiben, die um Piotr Ikonowicz entstanden ist. Im Lauf des Jahres wechselte er seine politischen Allianzen, je nachdem wer am spendabelsten war. Die Spezialität von Ikonowicz ist die politische Vermarktung. Er sammelt Geld und verteilt es dann an "arme Leute" und gewinnt so neue Freunde und Sponsoren, von der SLD bis hin zur Palikot Bewegung. Der einzige Unterschied zu den anderen Gruppen, die am 1. Mai demonstrieren, ist immerhin, dass seine Gruppe tatsächlich bis zu einem gewissen Grad an der gesellschaftlichen Basis mit armen Leuten zusammenarbeitet. Unglücklicherweise werden diese dann bei der nächsten Wahl instrumentalisiert, wenn er als Sprecher für seinen neusten Sponsor fungiert.
Bei der letzten Wahl sprach er sich für Palikot aus. Dabei versprach er das große Geld. Palikot zeigt gerne seine Unterstütztun für arme Leute, doch wie man hört kam von dem versprochenen Geld nur ein geringer Teil an. Die große Frage dieses Jahr war, ob Ikonowicz bei der Demonstration am 1. Mai den Arsch von Palikot unterstützt oder etwas eigenes unternimmt. Obwohl er innerhalb der Linken in Warschau angekündigt hatte Palikot am 1. Mai nicht zu unterstützen, äußerte er sich kurz vor der Demonstration anderweitig und leitete seinen Demonstrationszug zu dem Kongress von Palikot. Mit diesem Manöver wurde klar, dass die kleine traditionelle Linke dieses Jahr nicht mit ihm rechnen konnte.
Übernahmeversuch des 1. Mai durch Autonome Nationalisten
Einige hundert Leute beteiligten sich an einem faschistischen Marsch. Die Nationalisten suchen Wege in die sozialen Bewegungen und übernehmen Traditionen wie den 1. Mai. Mit Hinblick auf ihre Politik, erinnert es an die Art und Weise wie Hitler die Gewerkschaften verbot und den 1. Mai umfunktionierte. Die autonomen Nationalisten, so wie andere rechtsradikale Gruppierungen in Polen auch, versuchen anarchistische und antifaschistische Symbole zu übernehmen. Sie ahmen Slogans, Grafiken und andere Werke der ZSP-IAA nach, obwohl die ihrer Politik konträr gegenübersteht.
Allgemeine Analyse
In den Zeiten der Krise quält sich die Linke ab, während es den rechtsradikalen Bewegungen mit ihren verschiedenen Schattierungen gelingt, aus der allgemeinen Unzufriedenheit Kapital zu schlagen. Die polnische Linke steckt seit Jahren in der Krise und ist auf den Parlamentarismus fokussiert, wodurch sie von einem faulen Kompromiss in den nächsten stolpert. Umgeben von einer rechten Umgebung, gingen linke Parteien dazu über Elemente des Patriotismus, Nationalismus, usw. in ihre eigene politische Landschaft zu übernehmen - inklusive der Aktivisten aus diesen Bewegungen. Gleichzeitig bleibt die Anzahl anderer linker Gruppierungen, die mehr revolutionäre oder antikapitalistische (antiautoritär oder autoritär) Standpunkte vertreten, auf einem miserablen Niveau. Nichts desto trotz gelang es einigen neuen Aktivisten sich in verschiedenen sozialen Bewegungen zu engagieren und obwohl diese im Grunde sozialdemokratischen Charakter haben, könnte dies ein neues Gesicht der Linken in Polen sein.
Die rechte Bewegung ist in verschiedene Spektren aufgeteilt. Die radikale Rechte schlägt Kapital aus der allgemeinen Unzufriedenheit über die Effekte des Neoliberalismus, indem sie einzelne Teile des Monsters kritisiert. Polen litt erheblich unter der Einführung des von der IWF gedeckten Übergangprogramms vor über 20 Jahren, dann unter neuen Maßnahmen in der Folgezeit und dann unter dem Eintritt in die EU. Daher identifiziert die radikalen Rechten eine Gruppe von "Verrätern, nämlich die Leute, die den runden Tisch im Jahr 1989 organisierten, die Unterstützer des EU-Beitritts, usw.. Dadurch bleibt der Kapitalismus unangetastet und an seiner Stelle steht eine Reihe Maßnahmen, die den Polen von Ausländern durch die Mithilfe von "Verrätern" aufgezwungen worden sind. Wenn diese dann jüdische Menschen sind, passt das der radikalen Rechten perfekt in den Kram. Mit Hinblick auf das soziale Klima, fällt es nicht schwer zu beobachten, wie diese Art der Propaganda die Menschen fehl leitet und immer mehr Menschen ihr folgen. In den vergangenen Monaten haben wir einige Massenproteste von rechtsradikalen Gruppen gesehen. Eine Demonstration zur Verteidigung ultra-katholischer Medien war um ein vielfaches größer als die Beteiligung bei einer Demonstration gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters beispielsweise.
Obwohl die herrschenden Rechtspopulisten vorgeben nicht mit dem anderen Teil der Rechten in Zusammenhang zu stehen und sogar Angelegenheiten wie die Erhöhung des Renteneintrittsalters anspricht, bewegt sie die Menschen durch verrückte Verschwörungstheorien, wie den Vorwurf, dass die Russen den Flugzeugabsturz in Smolensk verursacht hätten oder sie redet von der Unterdrückung katholischer Medien. Dadurch sammelt sie Leute wegen idiotischer Angelegenheiten um sich und lässt die wahren sozialen und politischen Probleme unangetastet.
Die anarchistische Bewegung, Anarchosyndikalismus und der 1. Mai
So wie überall auf der Welt gibt es in Polen nicht die Eine anarchistische Bewegung. In einer kürzlich geführten Debatte mit Trotskisten, kam ein Punkt auf, dem ich nicht widersprechen konnte. Ein Teil der Bewegung organisiert den sozialen Widerstand gegen den Kapitalismus, während ein anderer Teil sich auf kleinen Inseln alternativen Lebens und Kultur isoliert. Obwohl einige Leute aus der Hausbesetzerszene oder sogar der alternativen Kultur sich mitunter in verschiedenen sozialen Kämpfen beteiligen, sehen wir wie andere das einfach ignorieren. Die Wirkung dieser Bewegungen sind sehr limitiert.
Andere AnarchistInnen scheinen geflüchtet zu sein und warten auf andere, die für sie das große Spektakel organisieren. Man trifft sie viel eher auf einer liberalen Demonstration oder in Berlin als auf einem von Anarchisten organisierten Treffen in Warschau. Sie sind ständig gefangen in einem gemeinen Kreislauf, angetrieben von einem giftigen Gemisch aus Ambition und Faulheit, mit Ambition innerhalb einer größeren Masse an Menschen, aber ohne Pläne oder Ideen diese in Polen zu verwirklichen. (Die Wahrheit ist - in Polen klappt diese Organisation nicht. Du kannst nur mit einer alltäglichen Bewegung oder den Kreisen um einen bestimmten Lebensstil oder eine bestimmte Kultur anständige Demonstrationen veranstalten. Die Hanf-Parade ist eine der größte Demonstration im Jahr.)
Einige ältere Aktivisten aus der Bewegung, mit einem etwas befremdlichen Begriff von Antikapitalismus, sehen sich nach den "guten alten Tagen", als die Bewegung noch nicht sektiererisch gewesen ist und Libertäre und Punks gegen einen gemeinsamen Feind gekämpft haben - der Staat und das "System". Andere haben Theorien über "das Wahre" gegen das "Symbolische"entworfen, wobei sie sich mit den wahren Angelegenheiten beschäftigen. Ich akzeptiere das, wenn es wirklich stimmt, dass diese Aktivisten sich täglich mit Basisbewegungen auseinandersetzen. Wenn "das Wahre" allerdings die privaten Aktivitäten in einem Squat oder einer isolierten Bezugsgruppe sind, bevorzuge ich den Symbolismus des 1. Mai.
Mit all dem im Hinterkopf entschied sich die ZSP am 1. Mai für eine eigene Demonstration mit anderen AnarchistInnen. So gingen wir auf die Straße gegen die Pseudoklinken und die PolitikerInnen, genauso wie gegen die Nationalisten. Ich kann nicht sagen, dass es der beste 1. Mai gewesen ist, den ich je sah, doch im Vergleich zu dem was sonst ablief, war es eine klare Aussage.
Entlang von Cafés, in denen der Bourgeoisie sündhaft teurer Kaffee ausgeschenkt wurde, sprachen wir über die Arbeitsverhältnisse, das Fehlen von Arbeitsverträgen, niedrige Löhne, keinen Urlaub, etc. etc.. Leider hatten wir keine direkten Aktionen geplant, was eine Schande ist. Nächstes Jahr sorgen wir dafür, dass diese Cafés geschlossen werden.
Unabhängig einiger negativer Faktoren, waren wir sehr glücklich darüber, die Menschen an die originalen Ursprünge des 1. Mai und den einzigartigen Kampf der ArbeiterInnen zu erinnern oder sie überhaupt darüber zu informieren, denn einige jungen Leute hatten keine Ahnung davon. Auf der anderen Seite habe ich ein schlechtes Gefühl wegen all dem. Denn wenn es die antiautoritäre oder selbst die antikapitalistische Linke nicht schafft sich selbst zu organisieren, nicht mehr arbeitet und keine Präsenz auf der Straße zeigt, sieht die Zukunft düster für uns aus. Dieses Jahr waren uns die Faschisten zahlenmäßig überlegen und es waren keine anderen Antifaschisten in Sicht. Vielleicht ist der 1. Mai für einige Leute einfach nur eine symbolische Tradition. Etwas wahres ist dran. Aber wir dürfen an diesem Tag nicht sozial unsichtbar bleiben, noch das Feld den Faschisten überlassen, die äußerst diszipliniert auftreten.
Über verschiedenen Leute habe ich mich sehr gefreut, keine AnarchistInnen aber Antikapitalistinnen mit libertären Tendenzen, die zu der einzigen antikapitalistischen Demonstration in der Stadt gekommen sind (selbst wenn ich mit einigen ihrer Positionen nicht einer Meinung bin). Wenigstens lassen sie sich nicht von den linken Scharlatanen betrügen oder denen, die von ihnen gekauft worden sind.
Quelle: Blog von Akai auf libcom (Engl.)
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