Venezuela: Mythos Öko-Sozialismus im 21. Jahrhundert

Dieser Text erschien in El Libertario #58, März-April 2010. In ihm wird die Umweltpolitik der Regierung von Hugo Chavez kritisch hinterfragt, indem die Unterschiede zwischen ihren sprachlichen Äußerung einerseits und den realen Entwicklungen andererseits, hervorgehoben werden.

Die Autorin ist Forscherin und Professorin an der Simon Bolivar Universität in Caracas. Ihr nun folgende Beitrag ist eine gekürzte Fassung eines spanischen Textes, der in seiner gesamten Länge im Journal für ökonomische und soziale Wissenschaften (Faces-UCV) erschienen ist. Der originale Titel lautet in deutscher Übersetzung: Öko-Sozialismus im 21. Jahrhundert und das bolivarische Entwicklungsmodell: die Mythen von der ökologischen Nachhaltigkeit und der partizipatorischen Demokratie in Venezuela [1].

Venezuela ist ein Land des Bergbaus und der Rohstoff gewinnenden Industrie, dessen Entwicklung von der Ölgewinnung und der Produktion anderer nicht erneuerbarer Ressourcen abhängt – Industrien, die allesamt einen sehr großen Einfluss auf die Umwelt besitzen. Bereits vor mehr als zehn Jahren bezweifelten ForscherInnen die Nachhaltigkeit der in der Zeit der Regierung C. A. Perez und R. Caldera entwickelten Modelle. In der Periode von 1999 bis 2009, bezichtigte dann die neue Regierung den „Raubtierkapitalismus und die neoliberale Politik“ und damit vor allem private Gesellschaften für Umweltprobleme verantwortlich zu sein, obwohl die momentane Rohstoffgewinnung, die sich am so genannten bolivarischen Entwicklungsmodell orientiert, auf die Umwelt einen noch schlechteren Einfluss hat, als der „Raubtierkapitalismus und die neoliberale Politik“.

Zwischen 1999 und 2009 kam der Protest und die Konflikte zwischen post-materialistischer Umweltpolitik und materialistischen Ansprüchen hauptsächlich von Umweltorganisationen, der indigenen Bevölkerung, öffentlichen Sektoren und sogar Menschenrechtsgruppen. Ihre Kämpfe orientierten sich an der 1999 beschlossenen Verfassung, die einen konstituierenden Prozess vorsieht, in dem partizipatorische Demokratie und Umweltrechte vor allem anderen steht. Viele dieser Rechte wurden verletzt und die partizipatorische Demokratie hat bei der Lösung von Problemen nicht weiter geholfen. Im Gegenteil, seit der Präsidentschaft von Hugo Chavez ist die Situation vielfach schlechter geworden.

Anklagendes Gedenken
Einige signifikante sozio-ökologischen Konflikte dieses Jahrzehnts hängen mit den negativen Auswirkungen der Ölgewinnung, des Bergbaus und den potentiellen Auswirkungen geplanter Mega-Projekte im Energiesektor zusammen, die sowohl national als auch international die Abhängigkeiten von den USA reduzieren sollen, während gleichzeitig der Zusammenhalt zwischen lateinamerikanischen und karibischen Staaten mittels der Bolivarischen Allianz für die Menschen Amerikas (ALBA) gestärkt werden soll.

Das bolivarische Entwicklungsmodell wurde von Sprechern der Regierung, inklusive des Präsidenten Chavez, als „nachhaltig, endogen, fair und partizipatorisch“ definiert. Die im Jahr 1998 von Chavez gemachten Wahlkampfversprechungen, bei denen der Umweltbewegung und der indigenen Bevölkerung Unterstützung bei ihren Kämpfen versprochen wurde, führten gemeinsam mit seiner Rede von der ökologischen Nachhaltigkeit und der Schuld des „Neoliberalismus und wilden Kapitalismus“, zu der Hoffnung, dass sich die Lage zum positiven wendet, sobald Chavez Präsident geworden ist.

Doch diese Erwartungen wurden nicht erfüllt, denn im Jahr 2005 verkündete Chavez, dass die Ölförderung bis zum Jahr 2012 durch die Ausbeutung von 500.000 km² mariner und 500.000 km² festländischer Flächen verdoppelt werden soll. Hinzu kommt der Neubau von Raffinerien und ein Gas-Komplex im Golf von Paria. Andere Pläne dieses Entwicklungsmodells beinhalten die Ausweitung des Bergbaus im Naturschutzgebiert Imataca, die Steigerung der Kohleförderung in der Sierra de Perija und den Ausbau der Wasserkraft zwecks des Energieexports nach Brasilien durch neu zu verlegende Pipelines. Die ökonomische Krise und die Ineffizienz der Regierung haben jedoch zu einer Verzögerung oder dem Stopp dieser Unternehmungen geführt, doch sollten sie jemals vollendet werden, hätte das Auswirkungen auf das gesamte Territorium, inklusive solcher Flächen, die heute durch das Gesetz und die Verfassung geschützt werden, z.B. der Canaima Nationalpark mit der Gran Sabana Hochebene, das Imataca Wald Reservat, sowie die Talbecken der größten Flüsse des Landes. Mit diesen Plänen setzt Chavez die Politik der Vorgängerregierung fort, die er selbst als „neoliberale, kapitalistische Feinde der Umwelt“ denunzierte.

Genau wie die karibischen Inseln und Südamerika, gehört Venezuela zu den zwölf Mitgliedsländern der Initiative zur Integration der südamerikanischen Infrastruktur (IIRSA), die 507 Projekte mit großen ökologischen und sozio-kulturellen Auswirkungen in über 10 Entwicklungsgebieten plant. Dazu zählt der Ausbau der Infrastruktur (Kommunikation, Transport, Straßen, Dämme, Gasleitungen und Wasserstraßen) in ganz Südamerika. Die geplante große südamerikanische Gasleitung, eines der wichtigsten Projekte zur Energieabsicherung Venezuelas, Brasiliens, Argentiniens und anderer Länder, auf Basis des ALBA Projekts, ist über 8.000 km lang. Dessen Ausbau würde extrem empfindliche Flächen mit großer Biodiversität betreffen und somit, nach der Aussage verschiedener ForscherInnen, einige der letzten Umweltreservate Lateinamerikas schädigen. Doch wie in den oben bereits genannten Fällen verzögert sich der Ausbau aufgrund der ökonomischen Krise. Wenn er jedoch fortgesetzt werden sollte, dürften die Auswirkungen auf die Umwelt vergleichbar sein mit denen der amerikanischen Freihandelszone, ALBA's ideologischer Mutter.

Widerstand hinter dem rhetorischen Diskurs
Das für Venezuela, den ALBA und IIRSA Mitgliedsstaaten vorgesehene Entwicklungsmodell zur Gewinnung von Kohlenwasserstoffen, wird von Umweltverbänden, indigenen- und Menschenrechtsgruppen, aufgrund seiner ökologischen und sozio-kulturellen Auswirkungen, stark hinterfragt. Diese Bewegungen haben in verschiedene Diskussionsrunden auf dem 2006 in Caracas abgehaltenen Welt Sozial Forum, starke Kritik an den negativen Auswirkungen der Ölförderung geübt. Das Forum organisierte eine Demonstration gegen die Ausweitung des Kohlebergbaus in der Sierra de Perija zur Unterstützung des Lebens, der Umwelt, der kulturellen Identität und ganz allgemein für die Einhaltung der in der bolivarischen Verfassung von 1999 vorgesehenen Rechte. Augenblicklich gibt es in Venezuela und Ecuador regelmäßige Proteste gegen die negativen Folgen der Öl- und Gasgewinnung und eine virtuelle Widerstandsbewegung die sich mit Hilfe digitaler Netzwerke wie oilwatch.org, maippa.org, soberania.org und amigransa.blogia.com formiert, da diese Foren einen unabhängigen Raum für den Widerstand gegen die geplante Öl- und Gasgewinnung in den tropischen Ländern anbieten

In Venezuela, wie in der gesamten globalisierten Welt, planen soziale Bewegungen den Widerstand gegen die „neoliberale Politik“, selbst wenn die Regierung einen „anti-neoliberalen Diskurs“ formuliert. Das bolivarische Entwicklungsmodell in Venezuela, wie die Modelle anderer Länder, die sich als „links“ bezeichnen, löst Widerstand und Mobilisierung aus, die sich nicht nur für materialistische Werte einsetzt, sondern ebenso Respekt vor Menschenrechten, Kulturen, Gleichheit der Geschlechter, und eine gesunde Umwelt einfordert. Es geht daher nicht alleinig um die Logik des Neoliberalismus und des Anti-Neoliberalismus, denn beide Ideologien können gegen die Durchsetzung dieser Werte stehen.

Im Falle von Venezuela, kommt der Widerstand nicht nur aus dem Kreis der Chavez GegnerInnen, sondern auch der Chavez Anhängerschaft, denn unter ihnen herrscht eine große ideologische Heterogenität. Aufgrund des Fehlens einer klaren ideologische Linie innerhalb der Chavez Bewegung, kann sich eine Bewegung formieren, die sich weder auf den Neoliberalismus noch auf den Anti-Neoliberalismus bezieht. Das ist insbesondere bei den Umwelt- und indigenen Bewegung der Fall, die sich zwar per definitionem als „anti-neoliberal“ verstehen und zu einem beachtlichen Anteil zur Chavez Anhängerschaft gehören, die aber zunehmend diese Dichotomie in Frage stellt, und einen Wandel der politischen, kulturellen, Geschlechter, sozialen und umweltpolitischen Agenda einfordert.

Bislang verhindert die große ideologische Heterogenität und die Klassenunterschiede innerhalb der Umweltbewegung einen gemeinsam formulierten Ansatz und führen zu einer Entfremdung verschiedener Gruppierungen untereinander, die in der Vergangenheit noch gemeinsame Strategien verfolgt haben. All das verkleinert die Macht der Umweltbewegungen, der indigenen und der Menschenrechtsorganisationen. Das Fehlen einer objektiven Darstellung der sozio-ökologischen Krise und das Fehlen einer gemeinsamen Strategie haben zu einer Schwächung dieser Bewegungen geführt. Während ideologische Allianzen aufgrund ihrer Heterogenität und Polarisation unrealistisch bleiben, kommt es in Zukunft darauf an, gegen die zerstörerischen Auswirkungen der Umweltpolitik von Chavez, eine neue Sprache und neue Symbole zu entwickeln, um dadurch die Mobilisierung, ob virtuell oder real, zu kanalisieren.

Für einen nachhaltigen Öko-Sozialismus
Die anti-neoliberalen Aussagen des bolivarischen Entwicklungsmodells könnten als erster Schritt zur Verwirklichung eines fairen Modells verstanden werden, wenn nicht die implizite Rationalität dieser Pläne und die venezolanische Politik des 21. Jahrhundert Öko-Sozialismus gegenteiliges bewirkt, da die produktive, instrumentelle und entwicklungstechnische Logik sich nicht geändert hat. Hinzu kommt, dass das Konzept der revolutionären Transformation sich nicht von den Plänen aus den 60er Jahren unterscheidet und, wie damals auch, von Oben kommt. Können wir von Gerechtigkeit, sozialer Gleichheit und Solidarität sprechen, wenn das Entwicklungsmodell weder die ökologische Dimension noch die Gleichheit der Generationen anerkennt? Wenn es die Wohlfahrt und die kulturelle Identität der indigenen Bevölkerung zugunsten ökonomischer Entwicklungen opfert? Oder wenn das Modell die negativen Auswirkungen von Mega-Projekten (Gas-Pipelines, Öl-Pipelines oder große Infrastruktur Projekte) auf die Umwelt unberücksichtigt lässt? Können wir von einem revolutionären Modell sprechen, wenn es nicht die Beziehungen und den Umgang mit der Umwelt, den sozialen Gruppen und zukünftigen Generationen berücksichtigt?

Eines venezolanischer Öko-Sozialismus im 21. Jahrhundert wird erst dann Wirklichkeit werden, wenn sich die Lücke zwischen dem rhetorischen Diskurs und der Realität dieses Entwicklungsmodells schließt. Zweitens benötigt es ein erstrebenswertes kollektives und kein von der Regierung vorgeschriebenes Zivilisationsmodell und letztlich die Vision einer von erneuerbaren Energien getragenen Gesellschaft, wie es von Salvador De La Plaza entworfen wurde, einem venezolanischen Historiker und Politiker, der vor den negativen Folgen der Ölförderung warnt und die Selbstbestimmung über die Ölquellen zur Erlangung der nationalen Souveränität einfordert. Eine nachhaltige Ölproduktion kann nur dann entstehen, wenn die ökologischen Folgen und die entstehenden Kosten des Kohlenwasserstoffabbaus nicht nur unter ökonomischen, sondern ebenso unter kulturellen und sozio-ökologischen Gesichtspunkten betrachtet werden.

Diese Auffassung deckt sich größtenteils mit der von Kovel & Lowry [2] , die in ihrem öko-sozialistischen Manifest festgestellt haben, dass eine Gesellschaft, die eine große Harmonie mit der Natur aufweisen möchte, von der fossilen Energie unabhängig werden muss, insbesondere deshalb, weil diese im besonderem Zusammenhang mit dem industriellen Kapitalismus steht. Diese Unabhängigkeit der ökonomischen Basis wird zu Befreiung der vom Öl Imperialismus unterdrückten Länder führen, sowie die globale Erwärmung und die Folgen der ökologischen Krise reduzieren.


Fußnoten:

[1] María Pilar García-Guadilla. Ecosocialismo del siglo XXI y modelo de desearrollo bolivariano: los mitos de la sustentabilidad ambiental y de la democracia participativa en Venezuela. in: Rev. Venez. de Econ. y Ciencias Sociales, 2009, Vol. 15, Nr. 1 , S. 187 – 223, siehe: www.scielo.org.ve/pdf/rvecs/v15n1/art10.pdf.

[2] Kovel, Joel y Lowy,Michael. Manifiesto Ecosocialista. in: Publicado en Capitalism Nature Socialism. Vol. 13, Paris, 2002.

Themenschwerpunkt Venezuela

Zum Thema „Anarchismus in Venezuela“ erschienen auf www.fau.org bislang die folgenden Übersetzungen aus der Zeitschrift El Libertario:

Venezuelas soziale Bewegungen: der schwierige Weg zur Autonomie
Venezuela: Gewerkschaften zwischen serviler Bürokratie und Auftragsmord
Die Beziehungen zwischen Kuba und Venezuela aus anarchistischer Perspektive
Vetelca: Die Geschichte der ersten bolivarischen Maquila Fabrik in Venezuela
Venezolanische Arbeit zwischen Chavez und den Golpistas

Die Homepage der Zeitschrift El Libertario besitzt eine deutschsprachige Bibliothek mit Texten zu verschiedenen libertären Themen, siehe: hier