Allgemeinverbindliche Tarifverträge - Mindestlöhne, wenn man denn davon wüsste...
Gesetzliche Mindestlöhne geben seit Jahren im berliner Politzirkus einen beliebten Anlass für Hau-den-Lukas-Einlagen ab. Das christliche Abendland und seine freiheitlich-demokratische Wirtschaftsordnung sind demnach schon bei 7,50/h in höchster Gefahr. In acht Branchen gibt es derzeit Mindestlöhnchen per Arbeitnehmerentsendegesetz - doch das Verzeichnis der allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge weist über 450 Einträge in 18 Branchen aus. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann nach § 5 Tarifvertragsgesetz einen Tarifvertrag unter bestimmten Voraussetzungen für allgemeinverbindlich erklären oder dieses Recht auf die oberste Arbeitsbehörde eines Landes übertragen. Wird ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt, müssen sich auch die nicht einem Arbeitgeberverband angehörigen Betriebe daran halten.
In einigen Bundesländern gibt es gerade in typischen Niedriglohnbranchen wie Gastronomie, das Friseurhandwerk, Bau, Transport und Handel allgemeinverbindliche Tarife. So weit, so gut. Doch in der Praxis dürfte dies in vielen Betrieben ohne Folgen bleiben. Für einen Großteil der Beschäftigten in den betreffenden Branchen dürfte schon der Begriff ein Fremdwort sein, und nicht selten wären vielleicht sogar deren Chefs überrascht. Für wen der Begriff immerhin kein Fremdwort ist, wird zwar schnell auf eine entsprechende Liste stoßen, aber die Suche danach, welcher Tarif denn nun gerade gilt, kann sich schon schwierig gestalten.
Nehmen wir als Beispiel GastronomiearbeiterInnen in NRW. Seit 2008 gibt es einen allgemeinverbindlichen Tarif für die untersten Tarifgruppen 2a und 2b. Mit Hilfe des online verfügbaren Tarifvertrags und eines Taschenrechners lässt sich ermitteln, dass für "einfachste Arbeiten" 6,50 brutto pro Stunde in den ersten 12 Monaten und 7,62 darüber hinaus gezahlt werden mussten (1) - jedenfalls bis Mai 2010. Für die folgenden Jahre haben der Hotel- und Gaststättenverband DEHOGA und die Gewerkschaft NGG neue Tarife ausgehandelt. Neben einer komplizierten Formel zur Tariferhöhung wurde die Billig-Tarifgruppe 2a auf bis zu 24 Monate und "erheblich mehr Tätigkeiten" ausgedehnt, schreibt die DEHOGA höchstzufrieden (2). Die NGG-NRW erwähnt in ihrem Tarifinfo (3) ohnehin nur die oberen Tarifgruppen - wäre sonst auch peinlich.
Aber zurück zum Thema. Eine aktuelle Lohntabelle oder gar die Antwort auf die Frage, ob dieser neue Vertrag nun schon allgemeinverbindlich ist enthüllt eine Internetrecherche jedenfalls dem Laien auch nach längerem Suchen nicht. Aber immerhin: "Die Nachwirkung der Allgemeinverbindlicherklärung besteht für die Außenseiter auch dann weiter fort, wenn für die durch Mitgliedschaft bei den Tarifvertragsparteien gebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bereits ein neuer Tarifvertrag abgeschlossen wurde, dieser aber nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden ist." (4) Es sei denn, das ist schon in der Allgemeinverbindlichkeitserklärung ausgeschlossen, oder in einer Betriebsvereinbarung oder dem Arbeitsvertrag anders geregelt.
Und wer kontrolliert eigentlich die Einhaltung dieser Quasi-Mindestlöhne? In der Praxis die PrüferInnen der Sozialversicherungen. Die berechnen die Sozialversicherungsbeiträge im Falle eines unterschrittenen allgemeinverbindlichen Lohns anhand des Tarifvertrags neu (jedenfalls wenn die Unterbezahlung aus den Abrechnungen oder Stundenzetteln ersichtlich ist) und fordern die fehlenden Sozialversicherungbeiträge (aber nicht die Auszahlung der höheren Löhne) ein. Aber bis zu so einer Prüfung können freilich viele Jahre vergehen, in denen ArbeiterInnen nichts von ihrem "Glück" wissen, eigentlich mehr verdient haben zu müssen. Und auch §8 Tarifvertragsgesetz erfreut sich sicherlich nicht allgemeiner Bekanntheit: "Die Arbeitgeber sind verpflichtet, die für ihren Betrieb maßgebenden Tarifverträge an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen."