Bildungssyndikat FAU Berlin -- Selbstdarstellung

Dieser Text ist die Selbstdarstellung des Bildungssyndikats
der Freien ArbeiterInnen Union / Berlin. Sie ist das Ergebnis
von internen Diskussionen über unsere individuellen Erwartungen,
Wahrnehmungen und Betrachtungen hinsichtlich einer anarcho-
syndikalistischen Praxis im Bildungsbereich. Es handelt sich hierbei
um eine Art Stand der Diskussion, wobei zu erwarten ist, dass
durch neue Erkenntnisse und das Einbringen von Ansichten neuer
Mitglieder Punkte in der Zukunft geändert oder ergänzt werden.


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[Bildung und Kapitalismus]

Im Kapitalismus geht es nicht darum, Menschen durch Bildung die Befähigung zu geben, selbstständige und selbstbewusste Persönlichkeiten zu werden, sondern aus ihnen den verwertbaren Rohstoff Arbeit zu formen und mittels gewisser Bildungsprozesse die gesellschaftlichen Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten. Während Menschen zum einen leistungs- und konkurrenzorientierten Sozialisationsbedingungen unterworfen werden, findet im Weiteren ein elementarer Selektionsprozess statt. Die institutionalisierte Bildung stellt dadurch eine wesentliche Instanz bei der Reproduktion von Klassenverhältnissen und sozialer Milieus dar.
Schon ein Blick auf die statistischen Realitäten dürfte eigentlich genügen, um dieses Ordnungsprinzip zumindest in seinen groben Umrissen zu erkennen.


[Interne Verhältnisse]

Doch es ist nicht nur die sozioökonomische Funktion des Bildungssektors, die Grund unserer Bockbeinigkeit und Zielscheibe unserer Aktivitäten ist. Im Gegenteil, die in ihm vorherrschenden Verhältnisse sind von den Abläufen der Gesellschaft als Ganzes nicht zu trennen – unter gewissen Gesichtspunkten sind sie einander Spiegelbild.
Nicht nur die Prozesse von „Qualifikation“, Selektion und die darauf basierenden Zuweisungen in die unterschiedlichen ökonomischen und politischen Positionen stellen Säulen der Klassengesellschaft dar, auch die pädagogische Komponente der Bildungsorganisation kommt in diesen Abläufen wesentlich zum Tragen. Im Gegensatz zur offiziellen Rhetorik, die Schule führe zu eigenverantwortlichem Handeln, werden SchülerInnen durch fremdbestimmte Sozialisation zu einer autoritätsfixierten und leicht zu funktionalisierenden Masse herangezogen. Wer sich dann dennoch nicht in die entmündigende Leistungs- und Bewertungsmaschinerie einer von ökonomischen Interessen geprägten und fragwürdigen „Wissensvermittlung“ einordnet, wird zunächst mit „Erziehungsmaßnahmen“ und später mit dem Damoklesschwert des Schulverweises oder der Exmatrikulation zur Raison gebracht.
LehrerInnen und akademische Autoritäten dienen hierbei als die exekutiven Organe zur Umsetzung dieser Prozesse, wobei sie im Wesentlichen ihre Rollenfunktion erfüllen. Denjenigen unter ihnen, die ihre Aufgabe nicht nur im Abfragen und Bewerten sehen und an einer idealistischeren Bildungsvorstellung festhalten, sind entweder durch drastische Restriktionen von oben die Hände gebunden oder bleibt ohnehin aufgrund der äußerst angespannten Arbeitsverhältnisse nicht mehr anderes übrig als – nun ja – ihren Job zu machen.


„Die staatliche Erziehung vermittelt herrschende Werte und Moralvorstellungen zur Herausbildung untertäniger und verfügbarer StaatsbürgerInnen. Die Erziehung in Institutionen baut auf der hierarchisch gegliederten (Klein-)Familie auf, die als Keimzelle des Staates von herrschenden Werten durchdrungen ist und diese reproduziert. Bereits in der Familie erlebt das Kind geschlechtsspezifische Rollenzuweisungen, des Prinzip von Befehl und Gehorsam, Disziplinierungsmaßnahmen und anderen autoritären Grundwerten. Die Menschen werden durch die Auswahl der vermittelten Inhalte sowie in der Form des Lehrens und Lernens geprägt. Es ist nicht im Sinne der staatlichen Sozialisation, zur freien Entfaltung der Persönlichkeit beizutragen. Vielmehr zielt sie darauf ab, durch Anerziehung von Hörigkeit, Leistungs- und Konkurrenzdenken, staatsbejahende, verfügbare Untertanen zu erzeugen, die ihre Funktion in diesem System erfüllen (sollen).“
Aus: Prinzipienerklärung der FAU, Kapitel „Gesellschaftskritik“, Abschnitt 4.5.



[Entwicklungen]

Bildung ist eine der wohl wichtigsten Ressourcen geworden. Wer die besten Fachkräfte mit den geringsten finanziellen Mitteln am schnellsten heranzüchtet, hat im ewigen kapitalistischen Wettrennen die Nase vorn. Deshalb übt das Kapital massiven Druck auf den Bildungssektor aus, um ihn nach seinen wechselnden Anforderungen zu formen.
Gerade heute befinden wir uns in einem drastischen Transformationsprozess, in dem die letzten Reste selbstbestimmten Lernens und kritischer Wissenschaft – und damit Kreativität und Widerstandskraft – vollends getilgt werden, während eliten- und wirtschaftspolitische Einflüsse bei den Bildungsinhalten und -strukturen immer gravierender den Ton angeben. Tagtäglich spüren wir, wie die ohnehin spärlichen „Reformen“ der 70er und 80er Jahre Zug um Zug zurückgenommen werden. Im Zusammenhang der allgemeinen Prekarisierung des Arbeitsmarktes können sich bereits jetzt viele trotz Jobbens kein Studium mehr leisten.
Erscheinungen wie diese und die permanente Zusammenstreichung der Lehrangebote an den Universitäten stellen jedoch erst die Spitze des sich vor uns auftürmenden kapitalistischen Eisberges dar. Insbesondere die „Liberalisierung“ des Bildungssektors im Zuge des Bologna-Prozesses und GATS beabsichtigt, das Bildungssystem zu einem standortgerechten Dienstleistungsunternehmen umzuformen, das für die Wirtschaft verwertbare Arbeitskräfte produziert und weitergehende Bildung einer privilegierten Elite vorbehält. Alles in allem werden Bildungsprozesse weiter formalisiert, die Lernenden noch mehr zugerichtet.
Auch der Erziehungsbereich leidet unter der neuesten kapitalistischen Offensive, die unlängst die „Krise des Sozialstaats“ bewirkt hat. In Folge davon wälzt der Staat den Druck des Kapitals abermals auf die Bevölkerung ab: Kitas und Schulen werden geschlossen, Stellen abgebaut, Gelder für Lehrmittel und Instandsetzungsarbeiten drastisch gekürzt; ohne Rücksicht darauf, ob Kinder die ganze Stadt durchqueren müssen, werden Kita- und Schulplätze improvisatorisch verlost; und die ohnehin zu wenigen Kindergartenplätze sind zu teuer, weshalb oft nur ein Elternteil erwerbstätig sein kann und Alleinerziehende in die Sozialhilfe getrieben werden – ein Umstand der gerade in Zeiten von Hartz IVff. schwer zu belasten beginnt.


„Gesellschaftlich relevante Gruppen, insbesondere aus der Wirtschaft, sollen in den Rahmenlehrplan-Kommissionen vertreten sein, soweit ihre Interessen berührt sind.“
Aus: Schulgesetz für das Land Berlin, 26. Januar 2004, § 11, Abs. 1.



[Arbeitsverhältnisse – mundgerecht serviert]

Als anarchosyndikalistische Organisation gehört es zu unseren primären Zielen, unsere Arbeits- und Lebensverhältnisse zu verteidigen, ja radikal zum Besseren zu verändern. Nicht nur auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, sondern auch im Bildungsbereich wird eine kämpferische Organisation der Lohnabhängigen immer dringlicher.
Kostprobe I – Lehrende, Erziehende, Forschende: Der Druck des Kapitals wird selbstverständlich auch auf jene ausgeübt, die in Forschungs-, Lehr- und Erziehungsberufen schuften. Auch hier bekommen wir die schöne neue Arbeitswelt zu spüren: kurzfristige Verträge, Angestelltenverhältnisse statt Verbeamtung, der Zwang zu Scheinselbstständigkeit (z.B. Werkverträge) und „Flexibilisierung“ sind längst Realität. Nicht nur in sozial schwachen Stadtvierteln können die überlasteten KollegInnen an Schulen und anderen Erziehungsanstalten ihren „Bildungsauftrag“, wenn überhaupt, nur noch mit zusätzlichem Engagement und einer gehörigen Portion Idealismus erfüllen. Dank verordneter, unbezahlter Mehrarbeit und Einstellungsstop für neue Lehrkräfte werden die LehrerInnen zu reinen Abfrage- und Bewertungsmaschinen herabgewürdigt.
Ein weitere Trend ist die Prekarisierung des Lehrberufes z.B. durch die breite Anstellung von Teilzeitkräften und befristet beschäftigten LehrerInnen als Aushilfen, während insbesondere an den Hochschulen immer mehr AkademikerInnen sich quasi unentgeltlicher Arbeit widmen, nur um überhaupt im „Geschäft“ bleiben zu können. Öffentliche Debatten wie um den Vorschlag, arbeitslose LehrerInnen auf Ein-Euro-Basis zu Sonderaufgaben zu verpflichten, sind in diesem Kontext kaum verwunderliche Vorstöße und fügen sich formgerecht in das Gesamtbild ein.
Kostprobe II – Angestellte: Prekarisierung ist auch die Devise, unter der die neuesten Entwicklungen im Bereich sonstiger Angestellter laufen. Nach mehrjährigem Stellenabbau setzt nun ein Trend ein, diese freigemachten Stellen durch angeblich „zusätzliche Arbeitsgelegenheiten“, also die rechtlosen Zwangsarbeitsverhältnisse der Ein-Euro-Jobs zu ersetzen. Diese Spirale verdrängt die reguläre Beschäftigung und erhöht den Druck auf das Lohnniveau aller Beschäftigten immens.
Weiterhin werden infrastrukturell notwendige Tätigkeiten in den Bildungseinrichtungen, wie z.B. Reinigungs- oder Versorgungsarbeiten, zunehmend an private Dienstleistungsunternehmen übertragen, deren Profitkonzept ohnehin auf unsicheren Teilzeitarbeitsverhältnissen basiert. Es bleibt allerdings abzuwarten, wie sich die aufkommenden Ein-Euro-Jobs ebenfalls im Bildungsbereich und diesbezüglich auswirken.
Was die studentischen Angestellten betrifft, so stellt Berlin mit seinem gesonderten Tarifvertrag zwar eine Ausnahme dar, doch es bleibt fraglich, ob diese Verhältnisse lange weiterexistieren. Der bundesdeutsche Regelfall ist, dass diese Angestellten selten Anspruch auf tarifliche Leistungen, Urlaubsgeld, Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall, Kündigungsschutz etc. haben und zu Dumpinglöhnen arbeiten. Diese Verhältnisse und der gegen Null gehende Organisationsgrad studentischer Angestellter garantieren, dass diese effektiv als Lohndrücker im Bereich der an den Hochschulen Angestellten fungieren. Dass bestehende und bessere Konditionen – wie z.B. die in Berlin – keine längerfristige Garantie darstellen, zeigen die länderübergreifenden Angriffe auf das Lohnniveau studentischer Angestellter.
Kostprobe III – SchülerInnen, Studierende: Studierende und SchülerInnen stellen aufgrund ihres sozialen Status eine besondere Gruppe auf dem privaten Arbeitsmarkt dar, insbesondere im Teilzeit- und Niedriglohnsektor. Z.B. gehören über 60% der Studierenden (ca. 1,2 Millionen) zu den Erwerbspersonen in Deutschland, wobei für einen nicht unerheblichen Teil der Verdienst existentiell notwendig ist. In der Regel sind die Beschäftigungsverhältnisse prekär: Während einige periodisch in unsicheren Beschäftigungsverhältnisse wie Praktika stecken, in denen sie oftmals die gleichen Arbeiten wie die Festangestellten verrichten – und damit die Rolle lukrativer, austauschbarer BilligarbeiterInnen einnehmen –, arbeiten viele auf Honorarbasis, wobei gesetzliche Mindestlöhne selten eingehalten und arbeitsrechtliche Standards permanent untergraben werden. Aufgrund der hohen Fluktuation und der kurzfristigen Arbeitsverhältnisse, die eine betrieblich fixierte Gewerkschaftsarbeit im prekären Teilzeitarbeitssektor durch die Vereinzelung quasi unmöglich machen, sind Studierende kaum organisiert bzw. ziehen sie dies selten überhaupt in Betracht.
Alles in allem lässt sich sagen, dass erwerbstätige SchülerInnen und Studierende als Teil der sogenannten „industriellen Reservearmee“ begriffen werden müssen, die wirtschaftlich instrumentalisiert wird, um die Konkurrenz zwischen den Lohnabhängigen und damit ein geringes Lohnniveau zu garantieren. Gerade im Zuge der voranschreitenden Ausrichtung des Arbeitsmarktes auf Teilzeitarbeit, die in relativ hohem Maße von Studierenden geleistet wird, müssen diese zunehmend als effiziente Lohndrücker verstanden werden.


[Bildungssyndikalismus]

Bildungssyndikate stellen einen Raum dar, in dem sich Menschen aus dem Erziehungs- und Bildungsbereich organisieren, um sich gemeinsam gegen Angriffe auf ihre Lebensstandards zu wehren, neue Freiräume und bessere Verhältnisse zu erkämpfen sowie eine grundlegende Umgestaltung von Bildung und Gesellschaft unter freiheitlichen und solidarischen Vorzeichen in Angriff zu nehmen.
Zwar kommt dabei dem Eintreten für die eigenen Interessen ein erheblicher Stellenwert zu, doch da sie Teil des gesamten Spektrums anarchosyndikalistischer Vereinigungen verschiedener Branchen und Gesellschaftsbereiche sind, handelt es sich um keine spezifischen Interessenorganisationen ohne weiteren sozialen Kontext. Wir haben diese Organisationsform gewählt, weil wir die Verhältnisse selbstorganisiert am Ort ihrer Erscheinung, mit direkten Aktionen angehen und unsere Stimme nicht an StellvertreterInnen der Politik oder saturierte Gewerkschaftsbosse abtreten wollen, die keinen blassen Schimmer von unseren Lebensrealitäten haben und nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Auf dieser Grundlage strebt der Anarchosyndikalismus ein föderatives und solidaritätsgebundenes Netzwerk an, das alle gesellschaftlichen Bereiche an ihren Wurzeln erfasst und dessen Teil die Bildungssyndikate sind.
Und in der Tat lässt sich nur mit Scheuklappenblick behaupten, dass Bildung autonom vom Rest der Gesellschaft bestehe, in Anbetracht des Strukturzusammenhangs von Schule – Uni – Arbeit, der unser aller Alltag und Lebensablauf bestimmt. So gehört es zwar auch zu unseren „tagespolitischen“ Verpflichtungen, die klassenbedingte Bildungsungleichheit zu attackieren und z.B. eine radikale Öffnung der Hochschulen zu erzwingen. Doch wer glaubt, mit Chancengleichheit im Bildungssystem – im Kapitalismus ohnehin illusorisch – würde eine allgemeine soziale Gleichheit einhergehen, der sieht letztere lediglich darin, ebenbürtig um die strukturell bestimmten Rollenzuweisungen in Staats- und Wirtschaftsorgane konkurrieren zu dürfen.
Unser Engagement beschränkt sich also nicht nur auf die unmittelbaren Arbeitsplätze und Tätigkeitsfelder, sondern erstreckt sich – als branchenföderierte Organisation – auch auf die Selbstorganisation gesellschaftlichen Lebens in allen Bereichen und zielt letzten Endes auf die Abschaffung des Lohnsystems überhaupt. Deshalb benötigen wir eine Parallelität und Vielfältigkeit der Kämpfe, die an den einzelnen gesellschaftlichen Komplexen ausgerichtet sind.
Die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind eine Machtfrage. Einst hart erkämpfte (wenn auch spärliche) Errungenschaften werden ohne ausreichende Gegenwehr nach und nach beseitigt. Wollen wir diese Einbahnstraße verlassen, sollten wir nicht nur auf sporadisch aufflammenden Protest oder vereinzelte, kampagnenpolitische Aktionen setzen, sondern in Bewegung bleiben, uns organisieren – entlang der Alltagsprobleme – und zwar langfristig. Spontaneität ist wichtig, aber nach kurzer Zeit verpuffende Demonstrationswut schafft nur Enttäuschung für alle Beteiligten.
Bei aller Mühseligkeit und geringer Spektakularität ist es wichtig, den langen Weg des Organisierens zu beschreiten – gemeinsam, unabhängig der Zugehörigkeit zu einer Statusgruppe im Bildungssektor. So wie wir durch föderative Organisierung den Spaltungen der Lohnabhängigen auf nationaler und internationaler Ebene entgegenwirken können, ließe sich auch im Kleinen, innerhalb des Bildungssektors, die Spaltung zwischen Lehrenden, Lernenden und allen Beschäftigten aufheben. Dies wäre eine Perspektive, mit der sich ein Weg aus der Sackgasse finden ließe, denn so – vielleicht auch nur so – entwickeln wir die notwendigen Druckpotentiale, um Erfolge einzusäckeln.


Exkurs: Anarchosyndikalismus
Unter dem Einfluss des Anarchismus entwickelte sich eine antikapitalistische Gewerkschaftsbewegung mit gesamtgesellschaftlicher Perspektive. Heute bezeichnen wir sie als Anarchosyndikalismus [anar´ço:zyndi´ka´lismus]. Dieser verbindet den alltäglichen Klassenkampf um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen mit der antistaatlichen, auf Selbstverwaltung gegründeten Gesellschaftskonzeption des Anarchismus.
AnarchosyndikalistInnen lehnen die Organisation ihrer Interessen in zentralistisch aufgebauten Parteien und Organisationen ab. Gegen Stellvertreterpolitik und Parlamentarismus setzen sie die Selbstorganisation in autonomen, unabhängigen Gruppen, die miteinander auf lokaler, regionaler und überregionaler Ebene zusammengeschlossen sind. Zur Durchsetzung ihrer Ziele und Forderungen dienen ihnen Mittel der Direkten Aktion (z.B. Besetzungen, Streiks, Sabotage usw.). Sie lehnen im Gegensatz dazu „indirekte“ Maßnahmen wie Betätigung in Parlamenten und staatssanktionierten Organen ab.
Dieser Ansatz ist weder neu, noch unzeitgemäß, sondern hat eine Tradition und in manchen Ländern eine lebendige Praxis.

„Anarchisten und revolutionäre Syndikalisten sind heute die einzigen, welche die Ausschaltung des Staates aus dem gesellschaftlichen Leben als Vorbedingung für die Verwirklichung des Sozialismus verkünden und die Erbschaft des freiheitlichen Flügels der alten Internationale getreulich wahren. Umso größer ist die Verantwortlichkeit, die auf ihnen lastet. Denn der Sozialismus wird frei sein oder er wird nicht sein.“
Rudolf Rocker, 1919.



[Gesellschaftliche Perspektiven]


„Herrschaftslosigkeit entsteht nicht von alleine. Nicht heute und auch nicht eines fernen Tages nach der „großen Revolution“. Sie ist auch nicht in den Verlauf der Geschichte durch eine höhere Gesetzmäßigkeit hinter der Zielgeraden eingebaut.“
Aus: Prinzipienerklärung der FAU, Kapitel „Utopie“.


Um die Organisation der Bildung in der herrschaftsfreien und klassenlosen Gesellschaft zu charakterisieren, können wir uns an folgenden Gesichtspunkten ausrichten:
Die freie Gesellschaft, die wir anstreben, fußt auf den Prinzipien der Selbstbestimmung, Selbstverwaltung und Selbstorganisierung. In ihr verfolgt Bildung das Ziel, den Menschen zu befähigen, sich entsprechend seiner Bedürfnisse und Neigungen entfalten und am gesellschaftlichen Leben im vollen Umfang teilhaben zu können. Selektierung, Auslese und Zurechtformung sind ihr unbekannt. Bildung stellt ein freies Angebot dar, das jedem uneingeschränkt zur Verfügung steht. Lerninhalte und -ziele bestimmen alle am Bildungsprozess Beteiligten gemeinsam.
Dies betrifft ebenso die Bildungseinrichtungen, die als Lebensraum von allen Betroffenen zu organisieren sind. Probleme werden gemeinsam von ihnen beraten und zur Entscheidung gebracht. Dabei geht es nicht nur um die intellektuelle Arbeit wie Lehre, Lernen und Forschung, sondern ebenso um die Tätigkeiten des „Unterbaus“: ob nun Verwaltung, Versorgung, Reinigung oder Baumaßnahmen. Selbstverständlich setzt dies auch die bestmögliche Aufhebung hierarchischer Verhältnisse voraus, ein Klima, in dem die Überzeugungskraft von Lehrenden nicht von der Autorität ihres Postens, sondern von ihren tatsächlichen Fähigkeiten und Kenntnissen abhängt. Kurz, wir wollen eine Dezentralisierung von Bildung und Wissenschaft, aufbauend auf einer Verantwortlichkeit von unten.
Welche Ansprüche eine zukünftige Gesellschaft an Bildung stellt, nicht zuletzt in Hinblick auf Ausbildung, und welche Konsequenzen das für eine mögliche Organisation der Bildung bedeutet, muss von dieser selbst entwickelt werden.
Denn die Verwirklichung beginnt hier und jetzt. Die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, Herrschafts- und Ausbeutungsmechanismen entgegenzutreten, auf allen Ebenen infrage zu stellen und aufzubrechen, ist die eine Sache. Die andere ist, was wir dem Bestehenden entgegensetzen, wie wir die neue Gesellschaft schrittweise in der Schale der alten aufbauen. Indem wir Andere zu selbstbestimmten Handeln ermutigen, unseren Zusammenschlüssen, Freiräumen und alternativen Projekten im Kleinen die Form geben, dir wir uns wünschen, entsteht das Gepräge einer neuen Gesellschaft.
Unsere Erfahrungen sagen uns, dass es nicht genügt, die Herrschaft zu entlarven und die Herrschenden abzusetzen. Direkte Demokratie muss vorbereitet, geübt, erlernt, immer wieder von neuem entwickelt werden. Sie muss vor allem in einer gemeinsamen, verbindlichen Form organisiert werden – gegen die bestehenden hierarchischen und verwertungsorientierten Strukturen, die uns selbst schon in Fleisch und Blut übergegangen sind. Deshalb hat der Anarchosyndikalismus unweigerlich auch eine Kulturaufgabe.
Insoweit das Bildungssystem der Zurichtung dient, stellt diese Instanz ein Rad im Getriebe dar, an dem der Kreislauf von Gehorsam und Funktionieren aufgebrochen werden kann. Die Revolutionierung der Bildung – im Gegensatz zum Tageskampf – ist gerade deshalb nicht nur eine Angelegenheit der gerade Beteiligten, sondern aller sozialen Kräfte, die an einer Veränderung interessiert sind – eine interaktive Veränderung, die nicht zuletzt auch die Auflösung der gesellschaftlichen Trennung von Hand- und Kopfarbeit sein sollte.


„Nicht das bloße etwaige Vorhandensein einer Fülle von Möglichkeiten gilt uns als Gradmesser für die Höhe der Kultur, sondern das Maß und das Verhältnis, in dem alle einzelnen an den Errungenschaften der Kultur teilhaben, zeigt uns den Stand der jeweiligen Kulturhöhe an ... In diesem Sinne sind für uns Gerechtigkeit, Kultur und Kommunismus gleichbedeutend.“
Fritz Oerter, „Was wollen die Syndikalisten?, 1909.



[Praktische Ansätze]

Vor diesem Hintergrund lehnen wir Reformen nicht ab (wohl aber den Reformismus!), sondern sind bereit, Veränderungen mitzunehmen, wenn sie eine konkrete Verbesserung unserer Lebenslage und die Entfaltung neuer Potentiale für sozialen Widerstand und revolutionäre Veränderung bedeuten. Entscheidend dabei ist, die Auseinandersetzungen selbstorganisiert und direkt zu führen, Initiative zu ergreifen und uns nichts von PolitikerInnen, ProphetInnen oder sonstigen StellvertreterInnen zu versprechen.
Wie direkte Aktionen (1) in den Bildungseinrichtungen aussehen, hängt immer von der jeweiligen Situation ab und welchen Zweck sie konkret erfüllen sollen. Ein paar Beispiele wie solch ein Praxis aussehen könnte, sollten hier aber dennoch erwähnt werden:
Ob Lehrende oder Lernende – wer es satt hat, seine Funktion in diesem Apparat zu erfüllen und einer anderen, menschenwürdigeren Vorstellung von Bildung anhängt, kann, wenn er sich mit Anderen zusammen organisiert, die mechanischen Abläufe angreifen und damit ein Teil zur Verbesserung des Alltags beitragen. In jedem Fall ist es wichtig, die Umsetzung repressiver Schul- und Studienbestimmungen dort zum Fiasko zu machen, wo sie sich in der Regel realisieren: im Lern- und Lehrbetrieb selbst. Durch Methoden der Verweigerung, Sabotage oder Ausübung von kollektivem Druck auf ausführende Autoritäten lassen sich zum einen formalisierte Kontrollinstrumente (restriktive Anwesenheitspflichten und wissenschaftliche Zwangsjacken, selektive Scheine, Benotung und Auswahlverfahren etc.) wirksam abwehren und zum anderen Demütigungspraktiken und Konkurrenzverhalten aushebeln. Im Weiteren ließe sich eine Umgestaltung direkt innerhalb der Lehr- und Lerngruppen erzwingen – durch die selbstbestimmte Wahl von Inhalten, Unterrichts- und Umgangsformen.
Andere Ziele, wie die Veränderung von Rahmenbedingungen (z.B. Zulassungsbeschränkungen, Studiengebühren und Mitbestimmung), lassen sich wiederum nur durch größere Kämpfe erreichen. Streik, der sich gegen (hoch)schulpolitische Gegebenheiten oder Vorhaben richtet, ist zwar ein Ansatz, kann aber nur wirklich Aussicht auf Erfolg haben, wenn er sich statusgruppenübergreifend, kämpferisch und solidarisch gestaltet. Auch dabei könnten druckvolle direkte Aktionen in den Bildungseinrichtungen selbst durchgeführt werden – wie z.B. Besetzung und Blockade wirtschaftlich relevanter Institute mit millionenschwerem Drittmittelaufkommen oder Arbeitsaussetzung der Lehrkörperschaft und Angestellten –, anstatt ihn, wie üblich, zum studentisch geprägten Straßenprotest der medialen Farce und des moralischen Appells an die Politik verkommen zu lassen.
Anders sieht es jedoch mit dem Kampf um bessere Arbeitsbedingungen von Angestellten aus. Ein derzeitiges Problem besteht in dem – häufig im öffentlichen oder gemeinnützigen Sektor festzustellenden – Phänomen, dass unter den dort Beschäftigten ein hohes Maß an akademischem Standesdünkel vorherrscht und diese Lohnabhängigen sich nur schwerlich als ArbeiterInnen begreifen. Demnach geht – abgesehen von Teilen der LehrerInnenschaft – der gewerkschaftliche Organisationsgrad gegen Null, Untertänigkeit und Akzeptanz gegenüber so gut wie jeder Verfügung von oben lassen gewerkschaftliche Kämpfe um bessere Arbeitsbedingungen als unangebracht erscheinen. In Folge dessen herrschen gerade unter ihnen untragbare Bedingungen vor: persönliche Abhängigkeit, undurchsichtige Seilschaften als Voraussetzung von Karrierewegen, hochgradige Einschüchterung, zweckentfremdete und unterqualifizierte Arbeiten etc. Allein das Bewusstsein als Lohnabhängige zu schärfen, Hindernisse (z.B. vorenthaltenes Streikrecht) zu überschreiten und überhaupt zu ernsthafteren Arbeitskämpfen überzugehen, würde einen bedeutenden Schritt darstellen.
Auch unter den studentischen JobberInnen scheint es erforderlich, dass Prozesse in Gang kommen, um Voraussetzungen für Handlungsfähigkeit zu schaffen. Zum einen bedarf es einer Sensibilisierung für arbeitsrechtliche Problematiken in Hinsicht auf die eigene Situation, die gerade von Studierenden als nicht in Frage zu stellen oder besiegelt betrachtet wird. Zum anderen sollte es zu einer Bewusstwerdung kommen, welche gefahrvollen Effekte die vorherrschende Passivität auf den Arbeitsmarkt, insbesondere auf die Standards von regulärer Arbeit, bewirken.
Im Weiteren können Bildungssyndikate auch viele andere nützliche Aufgaben übernehmen: Solidarität (z.B. bei individuellen Auseinandersetzungen), Unterstützung (Hilfe bei wissenschaftlichen Arbeiten, Wissensweitergabe, Problembewältigung etc.), Rechtsschutz (bei arbeitsrechtlichen Konflikten, im Falle von Exmatrikulation oder Schulverweis etc.), Koordinierung von alternativen Bildungsprojekten und vieles, vieles mehr.


[FAU]

Wir kämpfen für die Verbesserung der derzeitigen Arbeits- und Lebensbedingungen; bleiben jedoch nicht dabei stehen, sondern wollen gemeinsam eine libertäre (freiheitliche), klassenlose Gesellschaft aufbauen. Dazu gehört auch die Aneignung der Fähigkeiten, einmal Fabriken, Dienstleistungsbetriebe, Landwirtschaft und Bildungseinrichtungen durch die Selbstverwaltung der dort Beschäftigten übernehmen zu können. Unter anderem hierin besteht die Kreativität des Anarchosyndikalismus und der Lösungsansatz für die Problematik des Übergangs von einer libertären Revolution zur herrschaftsfreien Gesellschaft. Organisation und Ordnung sind nicht an Macht und Herrschaft gebunden – Menschen sind sehr wohl in der Lage, sich gleichberechtigt und ohne AnführerInnen zu organisieren.
Wir erstreben eine hochgradig vernetzte und von unten nach oben aufgebaute Gesellschaft ohne Hierarchien. Basierend auf der Erkenntnis, dass jeder revolutionäre Ansatz bereits Teile der neuen Gesellschaft in sich tragen soll, ist auch schon heute die FAU organisiert. Basis der Organisation sind die lokalen Orts- und Branchengruppen, die ihre Angelegenheiten und Arbeitsschwerpunkte in weitgehender Autonomie regeln und sich auf lokaler, regionaler und Bundesebene koordinieren. Wichtige Entscheidungen werden durch Mitglieder-Urabstimmungen getroffen. Daneben gibt es eine Reihe von bundesweiten Treffen zu speziellen Themen. Einziges bundesweites Gremium ist – neben der FAU-Zeitung „Direkte Aktion“ – die „Geschäftskommission“, die ausschließlich eine koordinierende Funktion hat. Bezahlte Funktionäre gibt es in der FAU nicht – und auch keine Funktionärseliten. Alle Mandate in der FAU rotieren regelmäßig, die Delegierten haben ein imperatives Mandat (2) ihrer Gruppen. Entscheidungen werden stets in den lokalen Vollversammlungen der Mitglieder getroffen.

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(1) Direkte Aktion ist ein organisatorisches Mittel, erstrebte Maßnahmen selbst zu vollziehen, statt Entscheidung bzw. Ausführung Mittelspersonen zu überlassen.
(2) „Imperatives Mandat“ bedeutet, dass die Delegierten nicht nach ihrer persönlichen Meinung abstimmen, sondern die Beschlusslage der sie delegierenden Gruppe einbringen.

X ~ X

Seit Ende 1998 haben sich unabhängige Gewerkschaftsgruppen (Syndikate) aus dem Bildungsbereich föderativ in der Freien ArbeiterInnen Union (FAU) assoziiert. Das Bildungssyndikat Berlin stellt einen dieser Zusammenschlüsse von Individuen dar, die sich einen gewerkschaftlichen Rahmen gaben, um die Vereinzelung aufzuheben und kollektiv für die Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen zu kämpfen. In Konsequenz streben wir nicht nur die Selbstverwaltung in allen Bildungs-, sondern auch in allen Lebensbereichen an: die grundlegende Idee des Anarchosyndikalismus, dessen Mitteln, Strategien und Ideen wir uns bedienen. Das Bildungssyndikat Berlin trifft sich jeden 1. und 3. Mittwoch um 20.00 Uhr im FAU-Lokal, Straßburger Str. 38