Griechenland - wie der Tod eines Jugendlichen zu einer generalisierten Erhebung geführt hat
Brennende Banken und Barrikaden, geplünderte Supermärkte, ausgebrannte Autowracks: Fünf Tage und Nächte in Folge waren Zehntausende auf den Straßen. Vor allem junge Menschen begaben sich mit unglaublicher Wut in heftige Straßenkämpfe mit den Sondereinsatztruppen der Polizei. Zwar haben diese Auseinandersetzungen nach einer Woche merklich nachgelassen, doch die daraufhin einsetzenden zahlreichen Schul- und Universitätsbesetzungen brachten die Regierung weiter unter Druck. Gemeinsame Forderung der über 500 in »Aktionszentren« umgewandelten Schulen und Hochschulen ist der »Rücktritt der Mörderregierung« und eine Reform des maroden Bildungssystems.
Der Auslöser dieser in jüngster Zeit beispiellosen Revolte waren die Todesschüsse eines Polizeibeamten auf einen 15jährigen Schüler im Szenestadtteil Exárchia in Athen. Der Stadtteil gilt seit Anfang der achtziger Jahre als Hochburg der anarchistischen Bewegung und verfügt über eine jahrzehntelange Tradition sozialer Kämpfe. Vom hier befindlichen Polytechnikum ging 1973 der so genannte Studentenaufstand gegen die Militärjunta aus.
Am frühen Abend des 6. Dezember feiert eine Gruppe Jugendlicher den Namenstag eines »Nicólaos«. Als ein Streifenwagen vorbeifährt, beschimpfen sie die Beamten. Diese fahren zunächst weiter, parken dann und kommen zu Fuß zurück, um nach eigener Aussage die Jugendlichen festzunehmen. Es folgen gegenseitige Pöbeleien, in deren Verlauf einer der Beamten plötzlich die Dienstwaffe zieht und, so seine Version, drei »Warnschüsse« abgibt. Der 15jährige Aléxandros Grigorópoulos sackt in die Brust getroffen zusammen und stirbt kurz darauf. Unbeteiligte Augenzeugen berichten von gezielten Schüssen, ohne dass eine Gefahrensituation bestanden habe. Der später inhaftierte Schütze macht Notwehr geltend, zudem sei der Jugendliche durch einen Querschläger getroffen worden. Der Tageszeitung Kathimeriní vom 13. Dezember zufolge deuten die forensischen Untersuchungen jedoch darauf hin, dass die Kugel direkt in den Körper des 15jährigen eindrang.
Die Nachricht von Aléxandros? Tod verbreitet sich rasch. Bereits um Mitternacht, nur drei Stunden nach der Tat, die allgemein als Mord empfunden wird, sind Straßenschlachten in einem Dutzend griechischer Städte im Gange. Ein Rücktrittsangebot von Innenminister Prokópis Pavlópoulos lehnt Ministerpräsident Kóstas Karamanlís am nächsten Morgen ab. In einem Beileidsschreiben an die Familie des Getöteten verspricht er eine »schnelle, rückhaltlose Aufklärung« und die »exemplarische Bestrafung der Schuldigen«. Daran freilich glaubt in Griechenland kaum jemand.
Waren es in der ersten Nacht vor allem anarchistische und linksradikale Gruppen, die Banken, Ministerien und Polizeiwachen angriffen, brennende Barrikaden errichteten und die Auseinandersetzung mit den »Mörderbullen« suchten, änderte sich dies im Laufe der nächsten Tage. Auch in Provinzstädten und auf abgelegenen Inseln wurden nun Polizeiwachen belagert, fanden Straßenkämpfe statt. Vor allem Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten, aber auch Auszubildende, junge Migranten, viele gewöhnliche Bürger und diverse linke Gruppen und Parteien beteiligten sich an den Protesten. Sprach die bürgerliche Presse in den ersten Tagen von den »schlimmsten Krawallen seit 1985« - damals hatte ein Polizist den 16jährigen Anarchisten Michális Kaltésas erschossen -, wird mittlerweile ein »Aufstand nie erlebten Ausmaßes« oder gar eine »Staatskrise« beschworen.
Die Explosivität der derzeitigen Situation hat eine lange Vorgeschichte, auf der die Schwäche der derzeitigen Regierung und die generelle gesellschaftliche Unzufriedenheit beruht. 2003 hatte die konservative Néa Dimokratía unter Kóstas Karamanlís die sei 1981 fast ununterbrochen regierende sozialdemokratische Pasok als Regierung abgelöst. Die Pasok war zu diesem Zeitpunkt heillos zerstritten, von Skandalen erschüttert und nicht nur in den Augen der Bevölkerung durch und durch korrupt. Enttäuscht wandten sich ärmere Schichten von der Partei ab. Erfolgreich inszenierte die Néa Dimokratía den Wahlkampf gegen »das Establishment aus Pasok und Großindustrie«. Mit dem Slogan »Bescheiden und ehrfurchtsvoll« charakterisierte Karamanlís in der Folge seine Regierung.
Die Wirklichkeit sah anders aus. Bereits vor den Olympischen Spielen 2004 begann ein Frontalangriff auf einst erkämpfte bürgerliche Rechte und soziale Errungenschaften, begleitet von einer langen Reihe politischer Skandale. Allein in den vergangenen zehn Monaten mussten drei Minister zurücktreten. Ein Sozialminister, dem nachgewiesen wurde, dass private Freunde von ihm mit Versicherungsgeldern an der Börse spekuliert und sie verloren hatten. Der Nachfolger, weil er illegale Immigrantinnen - natürlich unversichert - als Arbeitskräfte einsetzte.
Zuletzt flog ein Grundstücksdeal unter Beteiligung mehrerer Ministerien mit dem Abt des Klosters Vatopédi auf, einem der Klöster der christlich-orthodoxen Mönchsrepublik Athos. Marinehandelsminister Giórgos Voulgarákis und Regierungssprecher Theódoros Rousópoulos mussten gehen. Voulgarakis hatte dafür gesorgt, dass seine Frau, sein Schwager und sein Schwiegervater am illegalen Verschenken staatlicher Filetgrundstücke an das Kloster verdienten. Die Ehefrau war als Notarin an den Verträgen beteiligt, wofür sie mit einem staatlich festgelegtem Prozentsatz der Grundstückswerte (mehrere hundert Millionen Euro) als Honorar belohnt wurde. Schwager und Schwiegervater waren anwaltlich für das Kloster tätig, und Voulgarákis sorgte zusammen mit Ministerkollegen für die nötigen Unterschriften.
Knapp 96 Prozent der Griechinnen und Griechen sind christlich-orthodox getauft, der christliche Glaube in der Bevölkerung ist noch immer tief verankert. Umso schwerer wog daher der Schock, neben Politikern auch die Kirche in Betrügereien verwickelt zu sehen.
Zugleich leidet Griechenland an einer Teuerungsrate (4,7 Prozent), die in Europa ihresgleichen sucht, die Banken erhielten trotz Rekordgewinnen eine staatliche Stütze von 28 Milliarden Euro und erhöhten dann die Zinsen für Privat- und Geschäftskunden. Währenddessen werden die staatlichen Krankenhäuser wegen offener Rechnungen von über einer Milliarde Euro nicht mehr beliefert, da der Staat schlicht seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen ist. Obwohl viele Griechen derzeit am Rande des wirtschaftlichen Ruins stehen, plant Finanzminister Giórgos Alogoskoúfis zu allem Überfluss die Einführung einer Kopfsteuer, die auch von Menschen mit Einkommen unterhalb der Armutsgrenze bezahlt werden soll. Zündstoff gibt es also genug.
In der Hafenstadt Pátras kam es indessen zu einem besonderen Vorfall. Am 9. Dezember, dem Tag der Beerdigung und einen Tag vor dem schon länger geplanten Generalstreik gegen die Sozial- und Wirtschaftspolitik der Regierung, gingen Polizisten und Faschisten dort, in einer augenscheinlich koordinierten Aktion, gemeinsam gegen Protestierende vor. Gegen Ende einer der größten Demonstrationen in der Geschichte der Stadt griffen Dutzende mit Messern, Eisenstangen und Helmen ausgerüstete Faschisten unter der Deckung der Polizei den Demonstrationszug an. Die Parole »Blut - Ehre - Goldene Morgendämmerung« (so der Name einer faschistischen Organisation) brüllend, attackierte der Mob die Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Die bürgerlichen Medien, mit Ausnahme der lokalen Tageszeitung Simeriní, machten aus den Faschisten, in nahezu wortgleichen Meldungen, »lokale Geschäftsleute«, die ihr »Recht in die eigene Hand« genommen hätten. Abgesehen davon, dass kein Geschäft während der Demonstration in Mitleidenschaft gezogen worden war, waren auf den veröffentlichten Bildern die vorgeblichen Ladenbesitzer und »gesetzestreuen Bürger« mit Sturmhauben und mit Messern in der Hand abgebildet.
Dafür, dass es sich beim Zusammenspiel von Polizei und Faschisten um kein zufälliges Ereignis, sondern um eine geplante und koordinierte Aktion handeln könnte, spricht folgendes Detail. Auf Indymedia-Athen berichteten seit Montag Menschen aus mehreren Städten übereinstimmend, dass Polizisten lokale Ladenbesitzer aufgefordert hätten, ihre Läden am Dienstag zu verbarrikadieren und sich zu schützen. An diesem Tag würden Busladungen von Anarchisten in ihre Stadt einfallen, um sie zu verwüsten. Viele sehen dies als gezielte Vorbereitung, um Überfälle wie den in Pátras zu legitimieren. In Komotiní, in Nordgriechenland, kam es zwei Tage später im Anschluss an eine Demonstration zu ähnlichen Jagdszenen.
Die restlos delegitimierte und mit nur einer Stimme Mehrheit im Parlament nahezu handlungsunfähige Regierung wird früher oder später gezwungen sein, Neuwahlen anzusetzen. Der Tageszeitung Ta Néa vom 12. Dezember zufolge fordern dies knapp 70 Prozent der Griechinnen und Griechen. Aussicht auf wirkliche Veränderung gibt es nicht. Zwar rangiert die Pasok in Hochrechnungen vor der Néa Dimokratía, beide Parteien stehen jedoch für die gleiche Politik, kaum ein Mensch hat noch Vertrauen in diese seit Jahrzehnten regierenden »Parteien der Macht«.
Die stalinistische KKE, die derzeit bei sieben bis acht Prozent rangiert, ist erstarrt in alten Denkschemata und bezeichnet die massenhaften Angriffe auf Banken und Symbole des Staats entweder als das Werk »bezahlter Provokateure« oder vermutete die Zentrale der »Molotowcocktails werfenden Vermummten in den Geheimdiensten und ausländischen Kräften, welche die Kämpfe der werktätigen Klassen in Misskredit« bringen wollen, so die KP-Zeitung Rizospástis. Nur Synaspismós, der mit fünf Prozent im Parlament vertretenen »Allianz der radikalen Linken«, werden hohe Zuwachsraten vorausgesagt, wohl vor allem, weil sie mit Aléxis Tzípras einen jungen, rhetorisch gewandten »Bewegungslinken« zum Vorsitzenden gewählt hat. Inhaltlich jedoch bewegt sich Synaspismos zwischen den Grünen und der Linkspartei.
Dass die staatstragenden Gewerkschaftsdachverbände GSEE und ADEDY im Zweifel immer für die Aufrechterhaltung des Status quo sind, haben sie mit ihrem halbherzigen Generalstreik am 10. Dezember bewiesen. Bereits die Drohung, den Streik gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik zum Dauerstreik bis zum Rücktritt der Regierung auszuweiten, hätte Karamanlís zurücktreten lassen - wenn man es denn gewollt hätte. Doch starke Basisgewerkschaften, die Druck gemacht hätten, existieren in Griechenland nicht.
Den mittlerweile 350 vorläufig Festgenommenen - zwei Drittel sind jugendliche Migranten, die beim Plündern erwischt wurden - drohen in den meisten Fällen Bewährungsstrafen, mindestens 50 verhafteten Illegalen droht jedoch die Abschiebung. Der konservative Ex-Bürgermeister von Athen und jetzige Gesundheitsminister, Dimítris Abramópoulos, gibt indes die künftige Marschrichtung vor. Am 13. Dezember verkündete er, es gelte nun vor allem, »die Anarchisten von den Schülern und Studenten zu trennen«.