Die Grenze im Inneren
Interview mit einem Migranten über Leben und Arbeit in der Illegalität
(ungekürzte Fassung des Interviews in der aktuellen DA)
"Ausländer, die ohne Arbeitsgenehmigung arbeiten, erhalten häufig keinen leistungsgerechten Lohn. [...] Ihre soziale Sicherheit ist nicht gewährleistet". So die Feststellung der Bundesregierung in ihrer Publikation Illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit schaden uns allen. In Konsequenz geht die Regierung gegen "schädliche" illegale Beschäftigung vor. Während jedoch der Profit der Unternehmen durch die Busgelder allerhöchstens gemindert wird, entzieht man den MigrantInnen die wirtschaftliche Lebensgrundlage. Oft folgen einseitige Schuldzuweisung an die SchwarzarbeiterInnen durch rechte Parteien und die Presse. Die Gewerkschaft IG BAU zog sogar gegen die lohndrückende Folgen der Schwarzarbeit zu Felde, indem sie Hotlines einrichtete auf denen SchwarzarbeiterInnen denunziert werden sollten. Wir haben mit einem polnischen Migranten gesprochen, um einen Einblick in die soziale und ökonomische Realität von MigrantInnen in Deutschland zu bieten.
DA: Du lebst und arbeitest seit vielen Jahren in Deutschland. Was kannst Du resümierend über Deinen sozialen und ökonomischen Status in diesem Zeitraum sagen?
L: Ich bin Mitte der 90er Jahre mit einem 3-monatigen Touristenvisum nach Deutschland gekommen und fing an, hier zu leben. Der soziale Status, den ich quasi "mit mir mitgebracht habe, wurde hier automatisch um den Faktor illegal erweitert. Illegal aus staatlicher Sicht bedeutet: unerwünscht, kriminell und gesucht. Dies bedeutete, von Anfang an ein prekäres Leben zu führen. Konkret hieß das: auf der Straße nach Lebensmitteln zu suchen, von 150 DM im Monat zu leben, sich nur auf Straßen (und nicht in Bars, Kinos oder Cafés) aufhalten zu können, Ladendiebstahl... aber auch, alle möglichen Wege auszuprobieren, um an Jobs zu kommen... oder sich sogar Jobs auszudenken! Meine libertäre Lebenseinstellung hat mich vor den vielfältigen Schicksalsschlägen von MigrantInnen zwar nicht bewahrt, jedoch habe ich dadurch, verglichen mit dem Großteil der Clandestinos, keine größeren Probleme, auf alltäglichen Konsum, Arbeitshunger oder staatliche Zwänge zu verzichten. Alldem würde ich mich nämlich auch unter legalen Umständen zu entziehen versuchen. Trotzdem musste ich jahrelang vorsichtig und sparsam leben - weit entfernt von irgendwelchen stabilen Verhältnissen -, immer Kontakte knüpfen, flexibel sein und in Bewegung bleiben. Die letzten drei Bedingungen deckten sich sogar ganz gut mit meinen politischen Aktivitäten.
DA: Wie sind die Bedingungen von staatlicher und gesellschaftlicher Seite genau beschaffen, die MigrantInnen in diese Situation zwingen?
L: Lasst es mich mit einfachen Worten beschreiben: Du steigst in Rzepin (polnische Kleinstadt, 15km vor der deutschen Grenze) in einen Zug, fährst 10min. nach Frankfurt/Oder und merkst dort auf einmal, dass deine heiligen Bürgerrechte unterwegs dezimiert wurden. Dein Wille, deine produktiven Fähigkeiten mit denen der Menschen, denen du begegnest und neben denen du wohnst, in einen Austausch zu setzen, wird dir durch zwischenstaatliche Gesetze genommen. Wenn dein Zug (oder dein Boot) aus noch ferneren Regionen der Welt kommt, dann wird dir zusätzlich noch das Recht genommen, dich frei in deiner neuen Heimat zu bewegen. Du willst aber, in einer kapitalistischen Welt musst du sogar, deine Arbeitskraft in Austausch stellen. Das machst du dann geheim, in der Hoffnung auf menschliche/gesellschaftliche Solidarität, die du andersrum gegenüber jedem und überall zeigen würdest. Doch du merkst, dass ein gar nicht so kleiner Teil dieser Gesellschaft, statt Solidarität zu zeigen, versucht, von deiner Benachteiligung zu profitieren. Du ärgerst dich, versuchst, in dieser neuen Situation eine neue Lebensweise zu entwickeln, aber gleichzeitig wird dir klar, dass in dem Land, aus dem du selber kommst, genauso mit MigrantInnen umgegangen wird. Weil auch dort die Staatslogik besteht und vom Kapitalismus verdorbene Menschen existieren. Doch diese Bedingungen, nach denen Ihr fragt, gingen aus Entwicklungen hervor, die in diesem Rahmen schwer zu erklären sind. Ich meine damit die Konzepte der Nation und des Nationalstaats, dann den nationalen Protektionismus und Kolonialismus bis hin zur postkolonialen, neoliberalen Globalisierung. Es gibt also viel aufzuräumen, wenn wir die Probleme von MigrantInnen beseitigen wollen.
DA: Auf welche gesetzlichen Vergehen musstest Du Dich einlassen, um deinen Lebensunterhalt zu bestreiten, und welche Risiken gingst Du dabei ein?
L: Illegaler Aufenthalt in Deutschland, Angabe falscher Daten in vielen Situationen, Aufnahme illegaler Beschäftigung
bestimmt gibt es noch weitere, aber da ich mich mit den staatlichen Gesetzen nie so gut ausgekannt habe, ist mir selbst nicht ganz klar, welche Grenzen der Legalität ich noch überschritten habe. Das Risiko war immer hoch und reichte vom Verlust der Arbeit über kurzfristige Festnahme oder Geldstrafe bis hin zur Abschiebung mit Einreiseverbot.
DA: Welche konkreten Risiken und Entscheidungen gehen mit nicht vorhandenen Versicherungen einher? Hast du bestimmte Erfahrungen damit gemacht?
L: Nicht versichert zu sein und keinen legalen Status zu haben, bedeutet im Falle einer Verletzung bei der Schwarzarbeit, dass du dich auch schwarz behandeln lassen musst. An so etwas wie Krankengeld brauchst du gar nicht erst zu denken. Du musst sehr viel Glück haben, wenn dein Arbeitgeber dich in solchen Fällen unterstützt. Daher nehmen nicht alle jede Art von Arbeit an, die mit einem Unfallrisiko verbunden ist - vor allem, wenn sie schlecht bezahlt ist. Du willst dein Leben ja nicht für ein paar Euro ruinieren. In der Regel ist es jedoch so: je mehr Geld es zu verdienen gibt, desto größer ist das Risiko, das die Menschen einzugehen bereit sind. Das erklärt z.B. auch, warum viele MigrantInnen als Drogenhändler enden. Doch oft hast du keine Wahl und nimmst, was du bekommst, wie z.B. in meinem Falle eine schlecht bezahlte Arbeit in großer Höhe, bei der ich wusste, dass ich alle Folgen einer eventuellen Tragödie alleine tragen würde.
DA: Was waren in Deinem Falle die typischen Arbeitsbereiche, in denen Du Beschäftigung fandest? Und wie sieht es jeweils mit dem Verhältnis von Arbeitspensum und Entlohnung aus?
L: Ganz am Anfang habe ich mir zusammen mit einem Kumpel hier in Berlin eine bisher nicht praktizierte Einnahmequelle ausgedacht. Da wir keine Sprachkenntnisse und null Kontakte hatten (um an andere Jobs zu kommen), gingen wir auf die Berliner Autofahrer an roten Ampeln zu mit dem Angebot, ihre Windschutzscheiben zu putzen. Heute gehört diese Art der Beschäftigung fast schon zur Kreuzberger Folklore. Dann gab es die Baustellen, die ich aber eher meiden wollte - aus mehreren Gründen: größeres Risiko aufzufliegen, die damit verbundene nervösere Arbeitsatmosphäre und dazu das Risiko der Lohnabzocke. Ich habe da meine Erfahrungen gemacht und mir vorgenommen, mich auf so etwas nie mehr einzulassen. Danach arbeitete ich als Maler und Tapezierer, Zeitungsverkäufer, Maurergehilfe, Gärtner, Umzugshelfer, Übersetzer, Filmkomparse, Messebauer, Türsteher
Bei Renovierungsarbeiten nutzte ich oft die Macht des Stereotypen: polnische Handwerker sind gut und billig. Das half dabei, solche Jobs zu kriegen. Wir haben uns mit mehreren Kumpels verständigt, bei den meisten Jobs nicht weniger als 15 DM, später 8 , pro Stunde zu nehmen, aber es gab auch Situationen, in denen der eine oder andere für 5 gearbeitet hat.
DA: Würdest Du sagen, Deine Erfahrungen sind exemplarisch für die anderer MigrantInnen oder unterscheiden sie sich durch den spezifischen sozialen und kulturellen Hintergrund?
L: Nein. Es gibt dabei mehrere ausschlaggebende Aspekte. Es fängt schon damit an, welchen Status du hast und wie weit der Staat bereit ist, dich weiter zu integrieren, oder ob er dich vertreiben will. Dann, aus welcher Region der Welt du kommst - hier kommt u.a. auch Rassismus ins Spiel. Außerdem, aus welchen kulturellen Zusammenhängen du stammst: Menschen mit strengerem kulturellen Hintergrund werden sich vielleicht nicht auf alle Jobs, die z.B. ich gemacht habe, einlassen. Weiterhin, welche Möglichkeiten ergeben sich in dem Milieu, in dem du lebst - hier kann es sich entweder um Unterstützung aus nationalem/ethnischem Milieu handeln (MigrantInnen halten meist zusammen, oft sogar klassenübergreifend) oder um Unterstützung aus der Szene - mir wurden z.B. oft von verschiedenen Bekannten in Kreuzberg Job-connections vermittelt. Sogar politische Hintergründe spielen hier eine Rolle: Je enger deine selbst gesetzten Grenzen bzgl. ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen sind, desto begrenzter sind deine Perspektiven und desto aktiver und präziser musst du dich in der Clandestino-Arbeitswelt bewegen. Dennoch gibt es einen Aspekt, der für fast alle gilt: in dieser Arbeitswelt spielen meist nicht Kompetenzen oder Qualifikationen die entscheidende Rolle, sondern die persönliche Gewandtheit.
DA: Du kannst im wesentlichen nur über Deine Situation als Mann sprechen. Dennoch: wie schätzt Du speziell die Situation von migrantischen Frauen ein?
L: Frauen haben hier natürlich noch begrenztere Perspektiven - vor allem, wenn sie von Anfang an eigene emanzipatorische Einstellungen bewahren wollen, d.h., z.B. keine Jobs annehmen wollen, die sie in die Gefahr sexueller Belästigung bringen oder wo sie von irgendeinem Macker rumdirigiert werden. Im Kreis meiner Freundinnen waren Putzjobs in privaten und öffentlichen Gebäuden meist die zugänglichste Einnahmequelle in den letzten Jahren - meist schlecht bezahlte, aber (in Hinblick auf staatliche Verfolgung) relativ sichere Arbeitsstellen - aber auch Kneipen. Es gibt viele Jobs, bei denen die Arbeitgeber keine Frauen nehmen wollen. Wir haben deshalb oft verschiedene Tricks genutzt, um unsere Kolleginnen in solche Jobs reinzuschleusen. Eine Freundin wiederum hat sich für die Prostitution entschieden
Letztendlich glaube ich, es wäre besser, wenn Frauen selber hier von ihren Problemen erzählen könnten
DA: Wie sieht es mit Erpressbarkeit und Unsicherheit aus? Welche Erfahrung hast Du in dieser Hinsicht mit Arbeitgebern, die sich Deine Situation zunutze machten?
L: Unsicherheit führt dazu, sehr vorsichtig mit dem Arbeitgeber über Arbeitsbedingungen zu reden und Forderungen zu stellen - ebenso wie bei legalen Arbeitern, die unter dem Druck der Arbeitslosigkeit stehen. Bei MigrantInnen kommt noch die Angst vor staatlicher Repression (erwischt zu werden, Festnahme, Abschiebung
) hinzu. D.h., als ich angefangen habe, als Gärtner zu arbeiten, dauerte es einige Wochen, bis ich nach der Deckung meiner BVG-Kosten oder flexibler Arbeitszeit gefragt habe (ich habe immer versucht, die Arbeit meinen politischen Aktivitäten anzupassen und nicht umgekehrt). Außerdem ist der Arbeitgeber/Geldgeber nicht immer bekannt, da die Jobs auf verschiedene Weise vermittelt werden. Oft passiert es, dass du nach geleisteter Arbeit nicht rausfinden kannst, an wen du dich wegen der Entlohnung richten sollst. Natürlich gibt es nur minimale oder gar keine Garantien in Bezug auf Arbeitsrecht - Begriffe wie Kündigungsschutz oder Vertrag existieren in dieser Welt nicht. Die Entlohnung beruht natürlich auf einem Vergleich mit den Standards unter MigrantInnen und nicht mit den regulären Standards - d.h., du startest sowieso auf einem anderen Niveau. Mit Aussagen wie für diese Arbeit wird aber meistens XY bezahlt machst du dich nur lächerlich und bekommst meistens keinen Job. Viele meiner Freunde haben sich so hunderte von Arbeitsstunden entgehen lassen. Und dann gibt es noch einen ganz spezifischen Aspekt der Clandestino-Arbeiter: du bist meistens Einzelkämpfer und hast alleine oft einfach zu wenig Mut, dich zu wehren. Wohingegen eine Umzugs- oder Renovierungsbrigade schon viel mehr zu sagen hat.
DA: Inwiefern ist Solidarität unter MigrantInnen maßgeblich? Gibt es so etwas wie gegenseitige Hilfe bei Arbeitssuche oder bei Problemen mit dem Arbeitgeber?
L: Aus der allgemeinen Beobachtung ergibt sich eher keine gute Einschätzung bzgl. der Verbreitung eines anarchistischen Menschenbilds - auch unter MigrantInnen gibt es viel Egoismus, Konkurrenz, sogar viele Beispiele von Tributforderungen für geleistete Hilfe. Doch auch in einer allgemeinen Atmosphäre der Vereinzelung und Unsicherheit gibt es viele Fälle von gegenseitiger Hilfe und sogar einige Zeichen von Widerstand. Ich kenne Geschichten von polnischen Arbeitern, die gemeinsam eine halbe Baustelle mit nach Hause genommen haben, nachdem ihnen ihr Lohn nicht gezahlt wurde. In einer anderen Situation war es notwendig, ein paar Kollegen zusammenzutrommeln, um den Chef in die Enge zu treiben und ihn an die gemachten Absprachen zu erinnern. Manchmal, sogar bei Umzügen, haben wir so etwas wie einen italienischen Streik geführt; d.h., wir haben sehr langsam gearbeitet - meistens wenn der Auftraggeber anfing, um den Lohn zu schachern, oder sich uns gegenüber unkorrekt verhielt. Wir sagten ihm, dass das nicht in Ordnung sei, und verzögerten gleichzeitig die Arbeit. Das habe ich damals als working class multi-kulti bezeichnet, wenn also die Schwarzarbeiter aus Polen und Lateinamerika gemeinsam gegen einen deutschen Arbeitgeber eine Art von italienischem Streik durchgeführt haben. Sonst haben wir uns auch Jobs untereinander vermittelt oder miteinander geteilt, aber auch die anderen vor miesen Firmen und Personen zu warnen gehört dazu.
DA: Kannst Du abschließend eine Einschätzung abgeben, wie sich die Arbeitssituation von MigrantInnen durch Ausländerpolitik, Arbeitsmarktreformen etc. in den letzten Jahren gewandelt hat?
L: In Bezug auf MigrantInnen sind es in erster Linie nicht die Arbeitsmarktreformen, sondern die Reformen zur inneren Sicherheit, die die Arbeitsverhältnisse direkter betreffen. Das aktuelle Gebot der Arbeitsmarktreformen, Ein schlecht bezahlter Job ist besser als keiner, gilt für MigrantInnen schon immer. Daher haben viele von uns die Reformen kaum wahrgenommen. Jetzt sind einfach zusätzlich viele Menschen mit deutschem Pass degradiert worden. Ich persönlich beobachte aber schon seit einigen Jahren, dass es im Bereich der Mini-Jobs sehr eng und noch konkurrenzmäßiger geworden ist. Da die Arbeitsmarktreform sich in mehreren Punkten mit der Einwanderungspolitik ergänzt, ist auch die Arbeitssituation des Teils von MigrantInnen, die sogar Genehmigungen/Papiere haben, schwieriger geworden. Es wird z.B. eine rassistische Kategorisierung bei der Vergabe von offiziellen Arbeitsplätzen und Sozialleistungen verlangt (erst Deutsche, dann EU-PassbesitzerInnen, dann die mit fester Aufenthaltserlaubnis, dann Aussiedler und am Ende AsylbewerberInnen). Die EU-Erweiterung hat die Situation der Osteuropäer etwas verbessert, die kapitalistischen Ausbeutungs- und Erpressungsmechanismen der Unternehmer bleiben jedoch dieselben. Nur der Fokus der staatlichen Unterdrückungsmechanismen hat sich etwas verlagert und betrifft jetzt mehr die MigrantInnen anderer Herkunft.
DA: Wir danken Dir für dieses äußerst aufschlussreiche Interview.