Gießen: Politischer Prozeß gegen Aktivisten
13 Anklagepunkte, Verurteilungen bis zu 9 Monaten Haft ohne Bewährung in der ersten Instanz, monatelange Auseinandersetzungen über Hetze, Erfindungen und Fälschungen durch Justiz, Polizei, Politik und Medien, ca. 40 Anzeigen gegen Polizei, PolitikerInnen und JournalistInnen der Rahmen für den am Mittwoch, den 23. Juni 2004 in Gießen (Landgericht, Raum 15, ab 9 Uhr) ist gesteckt. Während die regionalen Medien die übliche Totalzensur über das Geschehen verhängt haben, starten bereits am Montag, den 21.6., Aktionen gegen den Prozeß und für ein Leben ohne Knäste und Strafe. Treffpunkt ist immer der Kirchenplatz in Gießen, wo bis zum 26.6. eine Dauerdemonstration angemeldet ist.
Die Geschichtsschreibung zu diesem Prozeß ist lang. Seit Jahren gibt es in Gießen vielfältige Aktionen vom Straßentheater bis zu Sabotage, bunt bemalten Behördengebäuden bis Blockaden und viele Fälle von Kommunikationsguerilla, z.B. gefälschte Polizei- oder Amtsschreiben in der Stadt (siehe unter anderem http://www.projektwerkstatt.de/aktuell.html). Die Polizei begann nach einiger Zeit, all diese Aktionen der Projektwerkstatt in Saasen, einzelnen Leuten dort oder dem Umfeld zuzuschreiben. Besondere Höhepunkte waren drei Wahlen (Bundestags-, Landtags- und Oberbürgermeisterwahl, siehe http://www.wahlquark.de.vu) und die Auseinandersetzung um die Gefahrenabwehrverordnung in Gießen ( http://www.abwehr-der-ordnung.de.vu). In einer Kriminalitätsstatistik des Jahres 2003, in dem ein Zuwachs linker Straftaten um 657 Prozent attestiert wurde, nannte die Polizei die Aktiven rund um die Projektwerkstatt gleich als Täter. Beweise oder Verurteilungen fehlen allerdings.
Besonders die Auseinandersetzungen um die Gefahrenabwehrverordnung führten zu absurden Reaktionen der Repressionsbehörden: Die Polizei verhaftete mehrfach Personen im Vorfeld von Veranstaltungen, sperrte eine Stadtverordnetenversammlung von Protestierenden ganz ab ( http://www.projektwerkstatt.de/gav/aktionen/121202.html) und griff am 10.1.2003 ohne Durchsuchungsbeschluß die Projektwerkstatt in Saasen an ( http://www.projektwerkstatt.de/pwerk/saasen/090103.html), um sie technisch zu zerschlagen. Der Polizeipräsident Meise brachte die Lage in einem Gespräch auf den Nenner, dass die Polizei nach mehr von vor und nach Chr., sondern als Zeitrechnung von vor und nach der Gefahrenabwehrverordnung spreche. Die vorherige Zeit benannte er verklärend als von Toleranz usw. geprägt, danach sei zwischen Polizei und politischen Gruppen nur noch Konfrontation.
Kreative Antirepression
Für die Polizei, aber auch für die immer öfter agierenden Gerichte, verschlechterte sich die Stimmung durch immer mehr Aktionen, die das martialische Auftreten der Ordnungskräfte sowie die immer neuen Bausteine der Sicherheitsarchitektur Gießens (der hessische Innenminister und Weiter-hart-durchgreifen-Klopper Volker Bouffier wohnt in Gießen) von Kameras bis zum freiwilligen Polizeidienst subversiv zum Gegenstand der Kritik machten, d.h. immer wieder z.B. Theatergruppen PolizeibeamtInnen heimsuchten, Streifenwagen beklebt oder Polizeistationen umgestaltet wurden. Gerichtsprozesse verliefen ungewöhnlich und immer wieder standen Wände von Gerichten oder Staatsanwaltschaft dem Strahl von Sprühdosen oder der Flugbahn von Farbbeuteln im Weg
Hetze, Erfindungen, Fälschungen
Überstunden bei der Polizei durch ständige politische Aktionen waren die eine Folge, eine entschlossene Abwehrreaktion seitens Politik, Presse, Polizei und Justiz die andere. Da die realen Aktionen nicht kriminalisierbar oder keine Tatverdächtigen zu ermitteln waren, wurde schlicht ausgedacht. So entstand in der repressiven Phantasie des Gießener Polizeipräsidiums aus einer öffentlich angekündigten Gedichtelesung am 9.12.2003 (vor der ersten Instanz des Prozesses gegen Projektwerkstättler) zunächst ein Farbanschlag, inzwischen soll es sogar ein versuchter Brandanschlag gewesen sein (siehe http://www.projektwerkstatt.de/gav/texte/pm091203.html). Die Presse druckte die Polizeilügen brav ab, die Gegendarstellungen wurden verschwiegen. Bürgermeister Haumann erfand sogar öffentlich eine Bombendrohung, um seine GegnerInnen zu diffamieren und Polizeieinsätze zu rechtfertigen. Die Lüge gestand er erst Monate später ein, als ein PDS-Abgeordneter so intensiv nachrecherchierte, dass sie nicht mehr zu halten war. Auch Gewalttätigkeiten kamen ins Spiel und wurden von Justiz und Polizei gedeckt. Schon zur falschen Bombendrohung gab es kein gerichtliches Nachspiel eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Als die grüne Oberbürgermeisterkandidatin Gülle im Wahlkampf einem Aktivisten unter zig ZeugInnen in der Fußgängerzone ins Gesicht schlug ( http://de.indymedia.org/2003/08/60237.shtml), nahm die Polizei den Geschlagenen fest, die Justiz erließ Anklage gegen den Geschlagenen. Der Staatsschutzbeamte ließ die Fotos vom Schlag verschwinden, ein Verfahren gegen die Schlägerin wurde nicht eingeleitet. Mehrfach wurden in den Tageszeitungen Namen oder eindeutige Personenhinweise gegeben in Zusammenhang mit Straftaten Verurteilungen gab es nicht, meist nicht einmal Ermittlungen. Das war der Presse aber auch gleichgültig und den RedakteurInnen bekannt.
Im März 2004 präsentierten Gießener Gruppen die gesammelten Lügen, Erfindungen und Fälschungen in einer präzisen Dokumentation. Dort sind allein schon über 20 Straftaten aufgelistet, für die Menschen beschuldigt wurden, die es aber nie gegeben hat ( http://www.polizeidoku-giessen.de.vu). Die Gießener Tageszeitungen verschwiegen auch diese Dokumentation die beiden Rundfunksender haben ohnehin noch nie über die Vorgänge berichtet und unterwerfen sich gehorsam der Pflicht, den Eliten zu dienen. Die Aktionswoche gegen Repression vom 8.-15. März 2003 ( http://de.indymedia.org/2004/03/76737.shtml, http://de.indymedia.org//2004/03/76833.shtml und http://www.de.indymedia.org/2004/03/76961.shtml) erzeugte in der Stadt einiges Aufsehen, doch die Medien berichteten erst, als die Polizei nach einer Veranstaltung der Humanistischen Union über die ganzen Vorgänge und dem kritischen Vortrag eines Polizeidirektors aus Nordrhein-Westfalen den Veranstalter attackierte und somit wahllos gegen eine bislang unbeteiligte Gruppe agierte ( http://de.indymedia.org/2004/03/77161.shtml).
Die Rolle des Prozesses
Der Prozeß gegen die Projektwerkstättler war von Seiten der Polizei und Justiz der Versuch, die von ihnen als Rädelsführer ausgemachten Personen einzuschüchtern oder gleich aus dem Verkehr zu ziehen. Da konkrete Beweise gegen die beiden nicht vorzubringen waren, dachten sich die Ermittler einfach einige Stories aus, die mit den konkreten Aktionen teilweise nur am Rande etwas zu tun haben. So soll z.B. einer der Angeklagten nach seiner Festnahme einem Polizisten ins Gesicht getreten haben, der dann dolle verletzt war (aber noch weiter Dienst geschoben hat, wie Polizeiakten zeigen). Das ist durchaus klassisch: Ein Bulle als Zeuge ist vor Gericht kaum zu widerlegen, denn egal wieviel Unsinn er redet, er repräsentiert das Wahre. Der Prozeß verlief entsprechend: Der Staatsanwalt schwieg fast durchgehend, denn er hatte klar, dass jede Frage an die sich ständig widersprechenden ZeugInnen seine Lügengebäude eher zum Einsturz bringen würden. Der Richter fragte auch wenig, während sich die Angeklagten mit präzisen Fragen verteidigten, Fotos vorlegten, Beweisanträge stellten, viele EntlastungszeugInnen auftraten doch alles umsonst. Richter Wendel interessierte sich für die Beweisführungen gar nicht, sondern verkündete dreist, daß z.B. der Schlag der Bürgermeisterkandidatin Gülle Beweis genug sei, dass sie vorher beleidigt wurde (das hatte zwar kein Zeuge bemerkt, aber trotzdem der Schlag beweist es). Flugs urteilte er: 9 Monate ohne Bewährung für den einen, 100 Tagessätze für den anderen Angeklagten. Rund um den Prozeß gab es kreative Aktionen, eine Gießener Tageszeitung bezeichnete die Aktivisten als Randalierer (obwohl es Randale gar nicht gegeben hatte offenbar ist Lügen da einfach Tradition). Berichte vom ersten Prozeß: http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/haupt_1instanz.html).
Auf ein Neues ...
Ab Montag, den 21.6. (ca. 12 Uhr) gibt es auf dem Kirchenplatz in Gießen eine Dauerdemonstration mit Aktionen, Reden, einer Ausstellung zum Prozess und der Vorgeschichte (übrigens als Vorlagen downloadbar und kann daher auch woanders aufgehängt werden: http://www.projektwerkstatt.de/polizeidoku/ausstellung.pdf), Gratisessen, Umsonstladen und mehr. Wer noch mitmischen will, sollte dorthin kommen. Die Demonstration läuft rund um die Uhr (außer am Donnerstag, da ist ein Tag Pause). Am Mittwoch beginnt um 9 Uhr der Prozeß im Landgericht Gießen (9 Uhr). Angesetzt ist er auf drei Tage mal sehen. Die Wege von Kirchenplatz zum Gericht und wieder zurück sind als Demonstrationen angemeldet Spontandemonstrationen aufgrund der Vorgänge sind darüberhinaus ebenso möglich wie alle möglichen Aktionen (für Ideen: http://www.direct-action.de.vu und http://www.projektwerkstatt.de/antirepression). Gerade in den ersten beiden Tagen (Montag und Dienstag) können jederzeit auch Workshops zu Gerichtsverfahren und Aktionsmöglichkeiten stattfinden. Bislang gibt es auch politischen Gruppen wenig Resonanz wie in vielen anderen Städten auch ist hier jedeR mit sich selbst beschäftigt oder nicht mal das. Alles was noch geschieht, entspringt daher spontanen Absprachen und Planungen rund um den Kirchenplatz oder wer Lust, handelt einfach. Sowohl den Angeklagten wie auch anderen AktivistInnen geht es nicht nur um den konkreten Prozeß. Auch nicht nur um die in Gießen mal sehr gut dokumentierten Formen von Repressionstaktiken (die anderswo sicherlich ähnlich sein werden), sondern auch um die Idee einer Gesellschaft ohne Eliten, Herrschaft, Strafe, Knäste.
- Herrschaftsfreie Gesellschaft: http://www.herrschaftsfrei.de.vu
- Kritik an Strafe und Knästen: http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/knast.html
- Antirepression: http://www.projektwerkstatt.de/antirepression
Kontakt vor Ort: 0171/8348430.
Homepage:: http://www.projektwerkstatt.de/prozess ¦