Tagesschau für alle!
Wir erhielten den folgenden Text, der die Stürmung des NDR-Geländes in Hamburg und die versuchte Tagesschau-Störung begleitete, mit der Bitte um Veröffentlichung - der Totalboykott der bürgerlichen Medien soll etwas aufgebrochen werden.
Am 13.1.2004 um 20.00 Uhr haben ca. 100 Studierende und Nicht-Studierende aus Hamburg und Berlin in einer gemeinsamen Aktion während der Live-Übertragung der Tagesschau das Gelände des NDR in Hamburg gestürmt und versucht, den Sendebetrieb zu stören.
Zehn der Beteiligten schafften es in den 9. Stock des NDR-Hauptgebäudes und entrollten Transparente mit den Slogans "Alles für alle" und "Besetzt".
Handelt es sich hierbei nur um eine Fortsetzung der in Berlin mittlerweile alltäglich gewordenen Störungen des Geschäftsalltages von politischen Institutionen, Banken und Mediengebäuden, dieses Mal an der Elbe anstatt an der Spree?
Einerseits ja, denn die Beteiligten verstehen sich als Teil der aufkeimenden Protestbewegung, die durch den Streik der drei Berliner Universitäten einen wichtigen Impuls erhalten hat.
Der Widerstand, in dessen Kontext auch diese Aktion stand, richtet sich unter anderem gegen die antisozialen Maßnahmen des Hamburger und Berliner Senats und der Bundesregierung, die sowohl Arbeitslose, Obdachlose, ImmigrantInnen, SozialhilfeempfängerInnen, PatientInnen, Mütter, SchülerInnen und Kindergartenkinder als auch Studierende betreffen. Andererseits steht die Aktion in klarer Abgrenzung zu standortnationalistischen und elitären Positionen, die das Bild des Berliner Unistreiks in der Öffentlichkeit dominierten und sich in Parolen wie "Wir sind die Elite von morgen" und "Kürzungen im Bildungsbereich schaden dem Standort Deutschland" manifestierten.
Es ist auch nicht das zentrale Anliegen der AktivistInnen "den Sozialstaat zu retten", wie es immer wieder von gewerkschaftlicher Seite gefordert wird. Selbstverständlich wird der Abwehrkampf gegen die Attacken der in Berlin, Hamburg und Deutschland regierenden Parteien (PDS, Grüne, SPD, FDP,CDU, CSU, PRO) auf das Bildungs- und Sozialwesen als notwendig angesehen.
Mit der Stürmung des NDR-Geländes sollte jedoch einer grundsätzlichen Kritik
der herrschenden Verhältnisse Ausdruck verliehen werden. Die Protestierenden
wollen keinen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz, da sie davon überzeugt
sind, dass es einen solchen nicht geben kann.
Positionen, die den Studierendenstreik als Teil einer gesamtgesellschaftlichen
Bewegung betrachten, sind zwar seit Beginn der Proteste vertreten und schlugen
sich sowohl in den Resolutionen der Berliner Unis als auch auf der bundesweiten
Demonstration am 13.12. nieder.
Das von den Medien transportierte Bild ist jedoch sehr einseitig und reduziert den breiten Widerstand der vergangenen Wochen auf eine rein hochschulpolitische Angelegenheit. Die Intention ist klar: indem man den Studierendenstreik als netten und kreativen Ausdruck studentischer Karrieresorgen vereinnahmt, soll ihm sein aufrührerisches und ordnungsgefährdendes Potential genommen werden.
Aktionen, die über das übliche Maß an zivilem Ungehorsam hinausgehen, werden verschwiegen oder als Unterwanderungsversuche einer radikalen inderheit dargestellt, um so den Protest zu spalten und einer Entsolidarisierung der systemkonformen Teile der Bewegung Vorschub zu leisten. Da dieser bewussten Ignorierung und Diffamierung gesellschaftskritischer Standpunkte und entschlossener Aktionen entgegengetreten werden soll, wurde am 13.1. versucht die Live-Übertragung der Tagesschau zu stören. Die Berichterstattung der Tagesschau ist beispielhaft für den Umgang der deutschen Medien mit den neuen Aktionsformen und radikaler Kapitalismuskritik.
Die selektive Wahrnehmung und das Totschweigen erfolgreicher und bedeutender Aktionen sind besonders der Tagesschau als wichtigster Instanz der angeblich unabhängigen Medienlandschaft in Deutschland vorzuwerfen und als Form staatlicher Zensur zu denunzieren. Letztendlich macht es jedoch wenig Sinn, die ARD für das zu kritisieren, was sie nun mal seit ihrem Bestehen ist, nämlich das offizielle Verlautbarungsorgan eines kapitalistischen Staates. Deswegen ging es bei der NDR-Stürmung auch nicht darum, endlich mal ins Fernsehen zu kommen, sondern vielmehr darum ein Forum für die verschwiegenen Forderungen eines stetig wachsenden Teiles der studentischen und nicht-studentischen Bewegung zu schaffen.
Durch einen augenscheinlichen Boykott der anderen bürgerlichen Medien ist es nicht gelungen eine breite Öffentlichkeit zu erreichen.
Unter dem Motto dieser Aktion, "Alles für alle", können sich all diejenigen wiederfinden, die eine Beschränkung auf Partikularinteressen und Bewahrung des Sozialstaates als unsolidarisch, verkürzt und systemaffirmierend ablehnen und einen fundamentalen Bruch mit der kapitalistischen Verwertungs- und Sachzwanglogik anstreben.
Das kollektive Agieren von Hamburger und Berliner AktivistInnen beweist, dass aus vielen kleinen Brandherden schnell ein Flächenbrand werden kann, wenn der durch die Herrschenden erzeugte Leidensdruck einmal zu groß geworden ist.
Die etablierten Parteien und ein Großteil der Medien müssen sich darauf einstellen, dass sie durch die Erfahrungen der momentanen Proteste von einer wachsende Masse von Unzufriedenen immer weniger als Gesprächspartner oder gar als Verbündete und täglich stärker als Gegner wahrgenommen werden. Kein freundlicher Bericht, keine Kompromissformel, keine Reform, keine zurückgenommene Kürzungsmaßnahme und schon gar keine staatliche Repression kann diesen Bewusstseinsprozess rückgängig machen.
Der Kampf gegen nationalistisches Elitedenken, rassistische Diskriminierung und soziale Ausgrenzung geht weiter mit und ohne Streik.
Alles für alle!