Anarchosyndikalismus - Eine totgeglaubte Bewegung ist wieder aktiv

"Die Aktivisten waren wohl selbst überrascht: An der Demonstration gegen Sozialabbau vom 2.11.03 in Berlin nahm ein ungewöhnlich starker Block von Anarchosyndikalistinnen teil und machte mit schwarzroten Fahnen und großer Lautstärke auf sich aufmerksam. Die Mehrzahl der Demonstrationsteilnehmer dürfte zum ersten Mal überhaupt mit der Strömung in Kontakt gekommen sein, genauso wie die Mehrzahl der Zuschauer. Dabei hat der Anarchosyndikalismus in Deutschland eine lange Tradition, die bis zur innersozialdemokratischen und -gewerkschaftlichen Opposition am Ende des 19. Jahrhunderts zurückreicht".

So beginnt ein Beitrag von Marcus Hammerschmitt, den das Online-Magazin "telepolis", am 31.12.2003 veröffentlichte. Darin nimmt er die Demonstration am 1.11. in Berlin zum Anlass, den historischen Anarchosyndikalismus kurz vorzustellen, um sich dann unseren heutigen Aktivitäten zu widmen. Das tut Hammerschmitt sehr wollwollend, er meldet jedoch auch eine Reihe von vermeintlichen und/oder tatsächlichen Schwächen an. Er schreibt: "Wie eh und je stellt sich der Anarchosyndikalismus heute also als Gemisch aus Arbeiterselbsthilfe, radikaler Gewerkschaftsarbeit und kulturrevolutionärer Aufklärungsanstrengung dar. Und seiner langen Geschichte verpflichtet, schleppt er auch einige der typischen Fehler in das neue Jahrtausend mit: einen drolligen Arbeiterbewegungstraditionalismus, der es mit der ideologischen Verstaubtheit vieler K-Gruppen spielend aufnehmen kann, eine Theorieschwäche, die unmittelbar aus der Überbetonung der direkten Aktion resultiert, den Hang zu Sozialromantik, auf sentimentalen Annahmen über die "Natur des Menschen" fußend, und eine chronische Organisationsschwäche, die sich dem Misstrauen gegen jede Bürokratisierung und jedes Berufspolitikertum verdankt".

Passend zum Ende eines Jahres, in dem die große Koalition das endgültige Ende des Nachkriegs-Klassenkompromisses eingeläutet hat, endet der Beitrag mit den Worten: Im Zuge der laufenden 'Reformen', sprich, der großflächigen Aufgabe des Klassenkompromisses, der die alte BRD bestimmte, scheint sich eine Form der Fundamentalopposition zurückzumelden, die auf den ersten Blick anachronistisch wirkt und sich auch einer anachronistischen Ästhetik bedient, die aber ohne Umschweife ein Bedürfnis nach Protest und Widerstand links von den Gewerkschaften artikuliert. Totgeglaubte leben länger. Vor allem, wenn die Verhältnisse ihr Fortleben logisch erscheinen lassen."

Finden wir selbstverständlich auch und nehmen es zum Anlass, an Sylvester die Korken der Sektflaschen mit den anachronistischen schwarzroten Etiketten knallen zu lassen und das neue Jahr unter fröhlichem Absingen von "Auf die Barrikaden!" zu beginnen. Auf dass die Verhältnisse, die unser Fortleben logisch erscheinen lassen, ein wenig geschüttelt werden.

Zum Weiterlesen

Der zitierte Beitrag in der "telepolis" vom 31.12.2003 findet sich unter http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/16387/1.html