Bericht von der Gewerkschaftskonferenz in Poznan (Polen)
Am 8.11.2003 fand in Poznañ ein eintägiger Gewerkschaftskongreß im Club "Rondo" statt, zu dem die Inicjatywa Pracownicza (Arbeiterinitiative der polnischen Anarchistischen Föderation FA) Poznañ eingeladen hatte. In der IP/FA sind Arbeiter, Angestellte, Studenten und Arbeitslose organisiert, die sich den
Kampf für die Rechte der Arbeiter zum Ziel gesetzt haben.
Zu ihren Teilnehmern zählten zahlreiche Mitglieder kleiner unabhängiger Gewerkschaften, wie Solidarnosc'80, Sierpieñ'80 und Konfederacja Pracy.
Viele Teilnehmer der Konferenz hatten in ihren Betrieben im vergangenen Jahr Arbeitskämpfe, Streiks und Proteste durchgeführt, waren gegen schlechte Arbeitsbedingungen oder Entlassungen aufgestanden oder haben innerbetriebliche Unterstützung organisiert.
Vertreter aus den verschiedensten Betrieben und Branchen folgten der Einladung, die Liste der Berichte reichte vom Gesamtpolnischen Protestkomitee OKP aus Ozarow, der Stettiner Werft über das Rydgier-Krankenhaus Wroclaw und Uniontex Lodz bis zum Therapiezentrum Przylesie in Poznan, um nur einige zu nennen.
In einigen der ehemals staatlichen Großbetriebe haben sich auf betrieblicher Ebene Basisorganisationen/-gewerkschaften tatsächlich aus der Vorwendezeit bis heute gehalten. Dieses Zusammentreffen verschiedener Protestgenerationen und -kulturen, die Möglichkeit zu Kennenlernen und Austausch, gab der Konferenz ihren außergewöhnlichen Charakter. Die FAU war ebenfalls eingeladen worden (Nicht zuletzt wegen des Ozarów-Videos, das in Polen sehr großen Anklang fand und findet, und inzwischen recht häufig privat kopiert wurde.), und war dieser Einladung mit 6 Kollegen gefolgt.
In einem kurzen Beitrag wurde über die derzeitigen "Sozialreformen" und arbeiterfeindlichen Gesetze in Deutschland berichtet. In einzelnen Punkten wurde eine engere Zusammenarbeit (polnische Saisonarbeiter in Deutschland etc.) und ein engerer Austausch vereinbart.
Uns Gästen von der FAU bleibt ein beeindruckendes Bild von Gewerkschaftsaktivisten der frühen 80er im Gedächtnis, die das libertäre Erbe der polnischen Arbeiterbewegung verteidigt haben und fortführen, ohne deswegen unbedingt Anarchisten oder Libertäre zu sein.
Nachstehend dokumentieren wir einen Situationsbericht zum polnischen Hüttenwesen. Es handelt sich dabei um einen auf der Konferenz gehaltenen Redebeitrag eines syndikalistischen Kollegen, der in einem schlesischen, koksbefeuerten Zinkwerk arbeitet:
Arbeiterselbstverwaltung als Alternative ?
Die Situation in Schlesien ist dramatisch, und das ist in erster Linie ein Effekt der staatlichen Politik der Zerstörung von Schwerindustrie und Bergbau, die beide eine Schlüsselrolle in dieser Region spielen. Wie die Regierung unter dem Diktat der Weltbank die Abwicklung des Bergbaus vorantreibt, so befolgt sie beim Hüttenwesen v.a. die Empfehlungen der Europäischen Komission, die von oben die Produktionsmenge aufzwängt, und genau auf diese Weise trägt sie dazu bei, daß Betriebe geschlossen werden und Tausende von Leuten ihre Arbeit verlieren.
Ein Vorschlag von Seiten der Regierung zur Rettung der Hüttenindustrie ist, ausländische Investoren zu suchen. Bis dahin geht es hier nur um eine Pseudo-Rettung der Betriebe, um dann einen besseren Preis zu bekommen. Mit genau diesem Ziel vor Augen wurden nur die besten und neuen Produktionslinien im Polnischen Stahlhüttenkonsortium zusammengefaßt.
Das Interesse ausländischer Firmen ist lediglich eine ökonomische Erkundigung, da Polen der ideale Markt für die Überproduktion der westlichen Konzerne ist. Und so muß wohl davon ausgegangen werden, daß das Ziel ausländischer Investoren allein die Abwicklung des Großteils der polnischen Hütten durch Bankrott ist. Die Gläubiger unseres Hüttenwesens sind Banken, deren Hauptbeteiligung aus ausländischem Kapital kommt.
Dieses Kapital ist nach der Marktbeherrschung und der Investition in den Kauf unserer Betriebe hauptsächlich daran interessiert, die Profite in den Westen zu transferieren. Aus diesem Grunde werden sich diese Banken wohl nicht für ein Entwicklungsprogramm für das Hüttenwesen interessieren.
Das Hüttenwesen hat bei uns ein riesiges Produktionspotential. Damit wird es für die an der Überproduktion erstickenden Konzerne der EU zur Bedrohung. Deshalb versuchen seit Beginn der 90er Jahre die verschiedenen Regierungen, ein Restrukturierungsprogramm zu erzwingen, das die weitergehende Abwicklung des Produktionspotentials durch Begrenzung der Produktion und Schließung eines Teils der Hütten sowie Massenentlassungen vorsieht. Die Regierung legt dabei eine außerordentliche Unterwürfigkeit an den Tag und verpflichtet sich zu Programmen zur Zerstörung der Hüttenindustrie.
Die allgemeine Strategie, die die Stahlkonzerne im Kampf um die immer kleiner werdenden Märkte verfolgen, ist der fortschreitende Prozeß der Kapitalkonzentration und die Schaffung immer größerer, von Staat und Staatsgruppen unterstützten Konzernen. Hier kann man von einem Prozeß der Oligopolarisierung des Hüttenwesens sprechen, sprich: vom Entstehen mehrerer großer Konzernorganisationen, die die Märkte unter sich aufteilen und die Konkurrenz untereinander im begrenzten Rahmen halten, um keine Handelskonflikte hervorzurufen. Kleine und kleinere Stahlproduzenten werden dabei jedoch absorbiert und untergeordnet. In der EU und den USA werden die eigenen Märkte mit Hilfe des Staates streng und rücksichtslos geschützt, und gerade diese Branche erfährt zu einem hohen Maße staatliche Hilfen. Große Stahlkonzerne in der EU üben direkten Einfluß auf die Politik ihrer Regierungen, aber auch der Europäischen Kommission, aus, die ihre Interessen unmittelbar realisieren.
Diese Konzerne interessiert hauptsächlich der Ausbau des Exports in die mitteleuropäischen Länder. Auf Forderung eben der EU-Stahlkonzerne stellte die EU-Kommission die Gespräche mit internationalen Finanzorganisationen über Kredite zur Umstrukturierung der polnischen Stahlindustrie ein. Dies zeigt deutlich, wovon sich die EU in den Verhandlungsprozessen mit Polen leiten läßt, und es zeigt, wie sich offizielle Erklärungen zu tatsächlichen Intentionen und Interessen verhalten. Die EU-Kommission betrachtet die Hüttenindustrie der 10 mit der EU assoziierten Länder, bes. die Stahlindustrie von Polen, Tschechien und Rumänien, als riesige Bedrohung für das EU-Hüttenwesen. So warnt sie diese Länder, ihr Weg zur EU-Mitgliedschaft liefe nur über radikale Umstrukturierungen und eine weitere Senkung des Produktionslevels.
Die EU-Kommission will die Beschäftigtenzahlen in den assoziierten Länder bis um zwei Drittel, d.h. um 200-250.000 Beschäftigte reduzieren. Die Kosten einer Umstrukturierung dieser Branche nach Vorschlägen der EU werden auf 10 Milliarden Dollar geschätzt, wobei die EU, wie sie selbst sagt, keine Mittel für eine Mitfinanzierung dieser Umstrukturierung bereitstellen wird. Die EU-Kommission versucht, ihr Gesicht zu wahren. Sie will Finanzmittel für das Hüttenwesen geben, fordert jedoch im Austausch die Zerstörung von Arbeitsplätzen. Dank der effektiven und diebischen Politik der EU mußten die Polnischen Stahlhütten demnach ihre Produktion drastisch drosseln. Im Gegenzug erhielten sie 3 Milliarden zl, aber diese Gelder mußten zurückgegeben werden, da sie nicht rechtzeitig verbraucht wurden.
Man mag sich fragen, warum wir für das Hüttenwesen draufzahlen sollten, wenn es denn nicht rentabel ist. Nun, die Wahrheit ist, daß die Stahlwerke für die Umstrukturierung 1,5 Milliarden Dollar ausgegeben haben, wovon lediglich 200 Mio Dollar garantierte Kredite der Regierung waren. Der Rest stammte aus eigenen Mitteln und kommerziellen Krediten, was in den Ländern der EU wiederum nicht üblich ist.
Wie ich bereits erwähnt habe, ist das Vorgehen der EU-Kommission, nämlich die Anordnung zum Verkauf unserer Stahlwerke an EU-Konzerne, unmittelbare von den Forderungen und Interessen der EU-Stahlkonzerne diktiert. Es kann somit voller Überzeugung festgestellt werden, daß dieses gesamte Privatisierungskonzept im direkten Interesse nicht nur der EU, sondern aller hochentwickelter Länder war und ist. Die Tatsache, daß solche Forderungen existieren, die nicht nur Polen oder die EU-Kommission, sondern ebenso den Weltwährungsfonds und die Weltbank kompromittieren, wurde und wird von den polnischen politischen Eliten verheimlicht.
Der Privatisierungsprozeß wurde und wird, ähnlich wie die gesamte ökonomische Transformation, als souveränes Konzept vorgestellt, das sich aus den ökonomischen Erfordernissen ergebe. Die Forderung nach einer Begrenzung der Produktionskräfte kommt schon nicht mehr, wie im Fall des Bergbaus oder der Landwirtschaft, im Gewand der Ideologie eines freien Marktes daher. Die Absichten der EU zeigen sich eindeutig in ihrer Forderung nach einer Auflistung der erwarteten Drosselung der Produktion jedes Stahlwerks. Zusätzlich verlangt die Brüsseler Kommission die Reduktion der ökonomisch gesehen effektivsten und zukunftsweisendsten Produktionskräfte.
Unter dem Druck der Regierung müssen die Hütten nun den Inspektoren der Kommission alle Angaben zum Produktionsprozeß offenlegen. Bereits zuvor wurden der Weltbank sämtliche Schlüsseldaten des polnischen Bergbaus zugänglich gemacht. Hinzu kommt, daß die Einschätzung der Profitchancen des polnischen Stahls zur Grundlage des Umstrukturierungsprogramms der Regierung gemacht wird. Diese Einschätzung wurde von einer britischen Consulting-Firma durchgeführt, die aus dem PHARE-Programm finanziert wird.
Was kriegen wir dafür?
Als Austausch schlägt die EU-Kommission Geld für Sozialprogramme für entlassene Stahlarbeiter vor; weiterhin soll es Kredite, allerdings von internationalen Finanzinstitutionen, für die Umstrukturierung geben, und schließlich eigene Kontakte bei der Auswahl der EU-Konzerne für die Privatisierung, was nun wirklich grotesk klingt. Nach Meinung der EU-Kommission sollten die Beschäftigtenzahlen auf 40.000 Beschäftigte beschränkt werden (gegenwärtig 95.000).
Die Gewerkschaften sind in der Frage einer Rettung des Hüttenwesens geteilter Meinung. Ein Teil stimmt dem Regierungsprogramm, der Suche nach einem ausländischen strategischen Investor, zu, ein Teil verwehrt sich dem strikt und beharrt auf der Notwendigkeit einer organisatorischen Zentralisierung und Konzentration des Kapitals in Form großer Konzerne und Holdings wie in der EU.
Ein weiterer Vorschlag ist das Modell eines sog. integrierten staatseigenen Unternehmens, das sich dadurch auszeichnet, daß es zwar nicht mehr im Besitz der staatlichen Wirtschaftsverwaltung ist, aber auch nicht privaten Kapitaleignern gehört, es wird vielmehr in den Besitz einer Arbeitergruppe und einer Direktion übergeben. Anders verhielt und verhält sich die Sache bis heute in den USA, wo Hüttenarbeiter ihre Arbeitsplätze dadurch verteidigen konnten, daß sie ihre Betriebe in Besitz nahmen. Das Arbeitereigentum hat eine lange Tradition in der amerikanischen Stahlindustrie, und es entstand an der Basis einer Gewerkschaftsinitiative.
Die erste Form dieses Eigentums war das Genossenschaftswesen. Die erste Welle der von Gewerkschaften organisierten Genossenschaften entwickelte sich Ende der 1840er Jahre. Als erste Genossenschaft entstand im Jahr 1847 die "Gießerei des Gesellenverbands in der Hüttenindustrie". In den folgenden Jahren entstanden weitere Genossenschaften in verschiedenen Branchen. Leider ging das nicht lange gut, da das Privatkapital mit Dumpingkonkurrenz, Nichtvergabe von Krediten usw. reagierte.
Gegen Ende der 1860er Jahre entwickelte sich die zweite Welle des Genossenschaftswesens. Zwei der Verbreiter waren Ira Steward, der eine breitangelegte Kampagne zum 8-Stunden-Tag organisierte, und William Sylvis, der Anführer der Internationalen Hüttenarbeitergewerkschaft. Er rief lokale Gewerkschaftsabteilungen zur Organisierung genossenschaftlicher Stahlwerke auf. Als erste solche Hütte entstand Troy im Jahre 1866 und erzielte gute Ergebnisse.
Nach zwei Jahren waren 11 weitere genossenschaftlichen Hütten entstanden, 20 befanden sich im Stadium der Organisation. Wie zuvor auch, zerbrach diese neue Genossenschaftsbewegung infolge von Dumpingkonkurrenz und Schwierigkeiten bei der Kreditnahme. Auch die mächtigste Gewerkschaft des 19. Jh. sprach sich für das Genossenschaftswesen aus - der Orden der Ritter der Arbeit. Ziel dieser Gewerkschaft war "die Erlangung er völligen Befreiung der Produzenten von Gütern vom Joch der Lohn-Unfreiheit."
Leider wandte sich die amerikanische Gewerkschaftsbewegung unter dem Einfluß der Marxisten gegen Ende des 19. Jh. von der Idee des Arbeitereigentums ab. Dieser Denk- und Handlungsstil marxistischer Prägung blieb den Gewerkschaften bis Anfang der 1980er Jahre, mit der Verbreitung des Arbeiteraktionärs verschwand er langsam. Auch diese Veränderungen gingen wieder von den Gewerkschaften der Hüttenindustrie aus.
Anfänglich standen die Gewerkschaften jedoch mißtrauisch, und sogar feindselig den neuen Eigentumsformen der Arbeiter gegenüber, da das Arbeiteraktionariat oft als Antigewerkschaftsinstrument gebraucht wurde. Der 1974 von oben in Form eines Gesetzes eingeführte Plan des Arbeiterkapitaleigentums (ESOP) war paradoxerweise für die Unternehmer profitabler als für die Arbeiter, da er Arbeiterkapital mit traditionellem Privatkapital schuf.
Alles änderte sich Anfang der 80er Jahre, als unter dem Einfluß von Reagans liberaler Politik, die durch billige Stahlimporte hervorgerufene Krise in der amerikanischen Stahlindustrie begann. Die Arbeiter begannen mit der Rettung ihrer bankrotten Unternehmen, und es zeigte sich, daß die beste Möglichkeit dazu eben die Arbeiteraktie ist. Wenn eine Firma in Schwierigkeiten geriet, wandten sich die Arbeitgeber gewöhnlich an die betriebliche Gewerkschaft, um dort Akzeptanz für die anstehenden Lohnkürzungen zu finden. Die Gewerkschaften verlangten nun jedoch Aktien im Austausch für die Lohnkonzessionen.
Zum Unterstützer und Organisator des Arbeitereigentums wurde die Gewerkschaft der Stahlindustrie. Die Gewerkschaftsinitiative kam von unten, die Gewerkschaften begannen, eine Beraterfunktion in ihrer neuen Form als Arbeiter-Eigentümer zu erfüllen. In Arbeiterbetrieben, die von Gewerkschaften organisiert werden, behält die Gewerkschaft weiterhin ihre traditionelle Funktion zum Schutz der Arbeiter, denn der Interessenkonflikt zwischen Arbeitern und Geschäftsführung verschwindet nicht. Gleichzeitig wird die Rolle der Gewerkschaft um die Funktion des Vertreters der Arbeiter als Eigentümer erweitert.
In einem großen Arbeiterunternehmen gehören u.a. zur Funktion der Gewerkschaft:
- die Sicherstellung einer freien Presse für die Aufrechterhaltung von Kontakten und Diskussion auf dem Unternehmensgelände
- Überprüfung der Aktivitäten von Aufsichtsrat und Geschäftsführung
- öffentliche Einreichen von Fragen zur Arbeit der Geschäftsführung
- Organisation von Treffen auf unterster Ebene, damit diese nicht von der Geschäftsführung dominiert werden können
- Vorbereitung von Einschätzungen von Unternehmensplänen
- Überwachung der Vorbereitung von alternativen Plänen
Die meisten Betriebe, die bankrotten Zustand von Arbeiter aufgekauft wurden, nahmen später eine Spitzenstellung in der Stahlindustrie ein, da für eine positive Lösung des Problems des Hüttenwesens die Initiative von Menschen vonnöten ist, die unmittelbar daran interessiert sind, eben die Arbeiter. Das Betriebsvermögen wurde von eben diesen Arbeitern erarbeitet, und es sollte weiterhin in ihrem Interesse, und nicht im Interesse einer kleinen Gruppe wirtschaftspolitischer Eliten genutzt werden. Da die Belegschaft eines Unternehmens am besten weiß, was im Betrieb passiert, am engsten mit dem Betrieb verbunden ist, der für sie "Arbeitswerkstatt" ist als auch Stabilität im Leben verleiht, soll die Führung des Betriebs eindeutig den Arbeitern übertragen werden.
Übersetzung: Alex