Arbeit für 4,90 Euro
Erwerbslose sollen Billigjobs annehmen, fordert der Kanzler. Wie sehen
diese Jobs aus, und wie kann man davon leben?
Von Christian Tenbrock
Bis zu zwölf Stunden steht Susanne Schwab* auf den Beinen,
schaut, prüft, kontrolliert.
Zwölf Stunden täglich, von morgens sechs bis abends sechs, sechs Tage in der
Woche, dann hat sie drei Tage frei. Schwab steht an einem Eingang des Berliner
Reichstags an der Röntgen-Schleuse, dort, wo die Touristen und Bundestags-Besucher
hereinkommen. Manchmal auch die Politiker. Friedrich Merz von der CDU hat sie
schon mal gesehen, auch Guido Westerwelle von der FDP.
Für jede Stunde Arbeit bekommt Susanne Schwab vier Euro neunzig Cent.
Etwa 240 Stunden kommen im Monat zusammen, das macht dann rund 1175 Euro - brutto.
Netto bleiben ihr weniger als 1000. Dafür steht sie morgens um halb fünf auf
und nimmt um fünf den Bus und die S-Bahn, um von ihrer Wohnung weit draußen
im Berliner Osten rechtzeitig zum Reichstag zu kommen. Abends die gleiche Tour
zurück. Zwei der fünf Kinder leben noch zu Hause.
Sie komme hin, sagt Schwab, gerade so eben, und nur, weil der Lebensgefährte
Arbeitslosengeld beziehe. Fleisch gibt es einmal die Woche, das Bierchen mit
den Kollegen einmal im Monat, neue Kleidung einmal im Jahr, und den Besuch im
Kino oder im Restaurant nie. Im Urlaub war die 46-Jährige zuletzt 1988. Zwei
Wochen an der Ostsee.
Susanne Schwab ist das, was in Deutschland "Billiglöhner" heißt.
Einer jener Menschen, von denen es nach Meinung vieler Politiker und Ökonomen
mehr geben sollte.
Um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, fordern sie, müsse der Niedriglohnsektor
in Deutschland ausgeweitet werden.
Es müssten mehr Jobs her mit einem Verdienst, der irgendwo zwischen der Sozialhilfe
und dem niedrigsten Tariflohn liegt.
Und um die Menschen zu bewegen, solche Jobs anzunehmen, müssten sie dazu gezwungen
werden - durch weniger Arbeitslosengeld und weniger Arbeitslosenhilfe.
So will es auch der Kanzler mit seiner Agenda 2010.
Blutspenden frischen die Haushaltskasse auf
Dabei gibt es in Deutschland schon jetzt Millionen Beschäftigte wie Susanne
Schwab.
Doris Malert zum Beispiel: In einem Kaufhaus-Restaurant in Kiel spült sie und
putzt die Tische ab. 836 Euro bleiben ihr am Monatsende, 400 nach Abzug von
Miete, Telefon und Versicherungen.
Oder Annelie Kaslak, die für 5 Euro in der Stunde Blumen in einem Geschäft in
der Nähe von Zwickau verkauft; ohne den Verdienst ihres Freundes, der Rasen
mäht und Hauswartsarbeiten erledigt, könnte sie nicht überleben.
Oder Michael Möller, 48, ausgebildeter Elektriker, ein schmaler Mann mit kräftigen
Händen: 6,90 Euro verdiente Möller als Zeitarbeiter in Plauen, bevor er vor
wenigen Wochen auch diese Arbeit verlor.
In Amerika würde man Schwab, Kaslak, Malert oder Möller "arbeitende Arme"
nennen - Beschäftigte, die am Monatsende so wenig Geld nach Hause bringen, dass
sie unter die Armutsgrenze fallen. Die liegt in Deutschland bei etwas mehr als
1200 Euro brutto, der Hälfte eines deutschen Durchschnittseinkommens.
Nimmt man diese Grenze als Maßstab, dann arbeiten allein im Westen der Republik
12 Prozent aller Vollzeit-Beschäftigten zum Armutslohn, sagt Claus Schäfer vom
gewerkschaftsnahen Forschungsinstitut WSI in Düsseldorf.
Das wären 2,2 Millionen Menschen nur in den alten Bundesländern. Im Osten ist
der Anteil der Billiglöhner weitaus höher.
Im Vogtlandkreis bei Zwickau beispielsweise verdienten im Jahr 2001 - neuere
Statistiken gibt es nicht - 56 Prozent aller Beschäftigten weniger als 910 Euro
netto im Monat. "Über Niedriglöhne muss man mir nichts mehr erzählen",
sagt Sabine Zimmermann, DGB-Chefin in Zwickau. Der Floristin Annelie Kaslak
auch nicht. 27 Euro bleiben ihr von ihrem Monatslohn, nachdem sie die Miete,
die Versicherungen und die Kosten für das Auto bezahlt hat, das sie braucht,
um zum Job zu kommen. Zwölfmal hat sie in den letzten Monaten Blut gespendet,
pro Spende gibt es 15 Euro extra.
Der größte Luxus im letzten Jahr? "Eine neue Brille." Markenjeans? "Niemals."
Ein anderer, besser bezahlter Job? "Wo denn?"
44935 Arbeitslosen im Arbeitsamtsbezirk Zwickau standen im April nur 2520
offene Stellen gegenüber. In Plauen kamen auf 24697 Menschen ohne Arbeit gerade
mal 1158 freie Stellen. Dabei müsste das der Theorie nach ganz anders sein.
Theoretisch müsste die Zahl der Arbeitsplätze steigen, wenn die Löhne niedrig
sind.
So sagen es zumindest all jene Ökonomen, die einen größeren Niedriglohnsektor
in Deutschland fordern. Hans-Werner Sinn etwa, der Chef des Münchner Ifo- Instituts,
spricht von 2,3 Millionen zusätzlicher Jobs, wenn die Löhne gering genug wären
und Menschen ohne Arbeit zu ihrem Arbeitsglück gezwungen würden.
Auch Klaus Zimmermann, der Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung
(DIW) in Berlin, hält zahllose neue Billig-Arbeitsplätze für möglich: "Potenziell
2 Millionen."
Hinter den Modellen der Theoretiker stehen ein paar simple Annahmen und der
Blick ins Ausland: Erstens seien einfachere Jobs in Deutschland dank zu hoher
Tariflöhne auch im untersten Bereich zu teuer geworden, also wurden sie wegrationalisiert
und Hilfsarbeiter aufs Arbeitsamt geschickt.
Zweitens sei die bisherige Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu hoch, deshalb gebe
es für die Empfänger staatlicher Leistungen nicht genügend "Anreize", einen
auch gering entlohnten Job anzunehmen.
Und drittens existiere in Deutschland eine "Dienstleistungslücke":
Während zum Beispiel in den USA die in der Industrie verlorenen Stellen durch
zahlreiche neue Arbeitsplätze ersetzt worden seien - im Handel, in der Gastronomie
oder im Gesundheitswesen -, sei dies hierzulande nur unterdurchschnittlich geschehen.
Wiederum auch deshalb, weil die Löhne in solchen Jobs angeblich zu hoch sind.
Die Therapie: Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes einerseits,
Reduzierung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau andererseits. So steht
es in der Agenda 2010, so will der Kanzler den Druck auf die Arbeitsfähigen
erhöhen, tatsächlich nach einem Job zu suchen. Ifo-Chef Sinn geht noch weiter
und will zusätzlich die Sozialhilfe um etwa ein Viertel absenken. Und DIW-Leiter
Zimmermann möchte die Bezieher staatlicher Stütze zu einer Art staatlichem Arbeitsdienst
verpflichten; auch das, so seine Hoffnung, werde sie am Ende dazu bewegen, einen
regulären Job anzunehmen - jeden Job.
Würden sich Arbeitslose oder Menschen auf Sozialhilfe nur billig genug verdingen,
würden diese Jobs auch geschaffen, sind die Therapeuten überzeugt. "Tankwarte,
Parkplatzwächter, Tüten-Einpacker, Türöffner am Kaufhaus", zählt Hilmar
Schneider vom Forschungsinstitut Zukunft der Arbeit in Bonn auf. Oder auch Haushaltshilfen,
Kinderbetreuer, Pfleger und Pizza- Lieferanten. "Potenziell rentable Arbeitsplätze
gibt es in den Köpfen der Arbeitgeber genug", glaubt Hans-Werner Sinn.
Wirklich?
So bestechend die Erfahrungen mit Billiglöhnern im Ausland auch sein mögen,
als Blaupause für Deutschland taugen sie nur bedingt. Denn Deutschlands ökonomisches
Dilemma ist der Osten. Dort fehlt es nicht an Druck auf Arbeitslose, dort fehlt
es an Jobs - ganz gleich, wie günstig die Arbeitskräfte sind.
Die Vorstellung, in den neuen Bundesländern könne ein noch höheres und noch
billigeres Angebot an Arbeitskräften quasi automatisch auch eine starke, Zehntausende
Arbeitsplätze schaffende Nachfrage nach ihnen in Gang setzen, "ist absurd",
sagt Burkhard Lutz, Professor am Zentrum für Sozialforschung in Halle. In der
gewerblichen Wirtschaft, berichtet die DGB-Frau Zimmermann, seien längst Absetzbewegungen
der Betriebe in Niedrigstlohnländer wie Tschechien und Polen im Gange, wo Bandarbeiter
weniger als zwei Euro die Stunde verdienen. Und bei den Dienstleistungen fehlt
schlicht die Nachfrage derer, die sie bezahlen müssten - der privaten Haushalte
also. "Man möchte die Kunden manchmal fast nötigen, einen Strauß Blumen zu
kaufen", sagt die Floristin Kaslak. "Aber man weiß eben auch, dass ihnen
die Tüte Semmeln wichtiger ist."
Und im Westen? Die Küchenhilfe Doris Malert bekommt einen Tariflohn von unter
sieben Euro. "Allein kann ich davon leben", sagt sie, "man richtet
sich ein." Urlaub ist nicht drin, und auch der Kauf von teuren Gesundheitsschuhen
nicht, die sie eigentlich nötig hätte. Wenn nun aber Malerts Lohn auf sechs
oder sogar fünf Euro sänke oder die Lohnnebenkosten fielen - würden dann sofort
mehr Küchenhilfen eingestellt? Kaum, sagt Hans Detlef Rahr, Betriebsratschef
und Aufsichtsrat in dem Unternehmen, das die Spülerin beschäftigt. Auch Ingrid
Hartges, Geschäftsführerin des Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga, verspricht
alles andere als massenhaft neue Jobs: "Wenn kein Geschäft da ist, werden
keine Arbeitskräfte benötigt."
Wenig Chancen für Einpackhelfer oder Tütenschlepper
Im Einzelhandel wiederum sind "die Niedriglohnjobs bereits besetzt",
sagt Heribert Jöris, Tarifexperte beim Einzelhandelsverband HDE. Ganz gering
entlohnte Tätigkeiten wie die von "Regalpflegern" - Beschäftigte, die
Dosen und Kartons nachlegen - werden überdies meist von Minijobbern erledigt,
und die sind in der Regel nicht ehemalige Arbeitslose, sondern Hausfrauen oder
Studenten. Die Schaffung weiterer Billigjobs, etwa für Einpackhelfer oder Tütenschlepper,
scheitert nach Jöris’ Worten zudem an der Unwilligkeit der Kundschaft, diesen
Service mit einem kleinen Aufschlag auf die Warenpreise zu honorieren. Wenn
es aber schon solche Jobs kaum gibt, dann bleibt wohl auch die Hoffnung, dass
künftig Tausende Türöffner, Tankwarte oder Parkwächter neu eingestellt werden,
genau das: die reine Hoffnung.
Selbst dort, wo auch Kritiker einer Niedriglohnstrategie noch die größten
Chancen sehen, viele Arbeitsplätze zu schaffen und Schwarzarbeiter in die Legalität
zu bringen, ist Vorsicht angebracht. 500.000 neue Stellen könnten in privaten
Haushalten für Putzhilfen eingerichtet werden, lautet die Vision von DIW-Chef
Zimmermann. Viel zu optimistisch, nennt das Claudia Weinkopf, die für das Institut
für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen die bisherigen Erfahrungen in dieser
Branche untersucht hat.
Ihr Fazit: Auch dann, wenn professionelle und legale Putzarbeiten vom Staat
hoch subventioniert werden - in einem Versuch in Rheinland-Pfalz zum Beispiel
mit 50 Prozent -, liegen die Kosten für den Arbeitgeber oft deutlich über den
üblichen Schwarzmarktpreisen. Keiner der mit viel Tamtam eingerichteten und
staatlich bezuschussten "Dienstleistungspools", in denen Reinigungskräfte
für Privathaushalte ähnlich wie in Zeitarbeitsfirmen beschäftigt werden, konnte
bislang Kostendeckung erreichen.
"Wer eine halbe Million Putzjobs erwartet", sagt Weinkopf, "geht von
völlig unrealistischen Annahmen aus."
Ohne Nachfrage kein Wachstum - und auch keine neuen Jobs
Das alles heißt nicht, dass es überhaupt keine zusätzlichen Stellen für Arbeitnehmer
geben wird, die mit fünf Euro pro Stunde zufrieden sein müssen. Wer es sich
leisten kann, lässt sich Bier und Butter von einem Online-Supermarkt frei Haus
liefern und zahlt dafür den Menschen, der die Kisten und Tüten auch in den fünften
Stock schleppt. Wer genügend Geld hat, wird einen Kinderbetreuer oder eine Pflegerin
für seine Eltern beschäftigen. Man braucht also Besserverdienende, die die schlechter
Verdienenden bezahlen können. Ökonomisch formuliert heißt das: Man braucht Wachstum.
Selbst DIW-Chef Zimmermann räumt ein, dass ein Billigjobwunder à la Amerika
zwei Dinge benötige: mehr Anreize für die Arbeitgeber, diese Jobs zu schaffen
- und gleichzeitig eine starke Nachfrage. Aber die fehlt in Deutschland. Tatsächlich
halten sich die Menschen mit Ausgaben zurück, die Sparquote ist so hoch wie
lange nicht mehr, die Wirtschaft stagniert.
Nur um 0,5 Prozent, schätzen Konjunkturforscher, wird Deutschlands Wirtschaft
in diesem Jahr wachsen; doch um auch nur ein paar hunderttausend Jobs für die
zwei Millionen niedrig qualifizierten Arbeitslosen und arbeitsfähigen Sozialhilfebezieher
zu schaffen, braucht es schon ein Wachstum von drei oder vier Prozent. Und auch
dann sind es zunächst nicht die gering Qualifizierten, die als Erste eingestellt
werden. Call-Center beispielsweise, hat Claudia Weinkopf herausgefunden, rekrutieren
ihre Angestellten vornehmlich aus den inzwischen ebenfalls massenhaft zur Verfügung
stehenden Arbeitslosen mit Ausbildung und Vorkenntnissen.
Mit alldem ist die Debatte um die Ausweitung des Niedriglohnsektors viel mehr
als ein rein ökonomisches oder arbeitsmarktpolitisches Thema. Es geht auch um
die Frage, "wie sehr viele arbeitende Menschen in Deutschland künftig leben
sollen", sagt Gerhard Bäcker, Sozialexperte der Universität Duisburg-Essen.
Gibt es ein massenhaftes Angebot an Billig- Arbeitskräften, würden selbst jene
geringen Tariflöhne unter Druck geraten, die schon jetzt nur ein Einkommen unter,
an oder knapp über der Armutsgrenze ermöglichen.
Würde das passieren, wäre die Gesellschaft von morgen eine andere als die
von heute. Das ist kein Argument gegen Billigjobs. Bloß ein Hinweis, darauf,
dass es dann noch mehr Menschen geben wird, die so leben wie Schwab, Kaslak,
Malert und Möller - oder noch ein bisschen schlechter.
Michael Möller sagt, es sei ein Glück, dass er sich noch zu DDR-Zeiten ein
kleines Häuschen gebaut habe, neun mal neun Meter Grundfläche. Das kostet nur
die 100 Euro Kreditrate pro Monat, nötige Renovierungen mache er eben nach und
nach. Als der ehemalige Elektriker noch als Zeitarbeiter unterwegs war, brachte
er immerhin zwischen 800 und 1200 Euro im Monat nach Hause. Das habe gereicht,
zusammen mit dem Arbeitslosengeld der Frau. Vier-, fünfmal im Jahr seien sie
sogar essen gegangen.
Jetzt hat Möller keine Arbeit mehr. Die Frau bezieht nur noch Arbeitslosenhilfe,
3,90 Euro am Tag. Auch die Tochter lebt wieder zu Hause, nachdem ihre Stelle
in einem Restaurant gestrichen wurde. Vor ein paar Tagen war Möller zum ersten
Mal in seinem Leben auf dem Sozialamt, um Wohngeld zu beantragen. Befragt, was
wäre, wenn er einen Job für 5 Euro annehmen müsste, nachdem in elf Monaten das
Arbeitslosengeld ausläuft und die Arbeitslosenhilfe zum Leben nicht reicht,
schaut der 48-Jährige nach unten, knetet die Hände. "Ich bin doch Familienvater,
ich muss für meine Familie sorgen", sagt er. Aber wenn er mit 5 Euro brutto
heimkomme, dann sei das unwürdig. "Dann bin ich kein Versorger mehr."
Mitarbeit: Fritz Vorholz
*Die Namen der betroffenen "Billiglöhner" sind geändert
(c) DIE ZEIT 22.05.2003 Nr.22