Isolde trifft Dreck (5 vor 12 Berlin)

Berlin 17.05.2003 - Auf der Großdemo einiger Gewerkschaften gegen die "Agenda 2010",
hatte ich die Gelegenheit, mich mit meiner alten Freundin Isolde Kunkel-Weber
- Gewerkschafterin und ehemaliges Mitglied der "Hartz-Kommission" - zu unterhalten.

Leider hat mich Frau Kunkel-Weber nicht hören können während sie redetete
und meine Zwischenbemerkungen auf sie herabprasselten. Aber das macht nichts:
Mein Bart, in den ich brabbelte, hat mitgehört und das Wirrwarr am Ende wieder
auseinandergepuzzelt.

Kunkel-Weber: Ich grüße die rund 10.000 Demonstrantinnen und Demonstranten
aus allen Teilen der Republik, die sich zum Teil schon um 23.00 Uhr gestern
nacht auf den Weg gemacht haben. Ein herzlicher Gruß den Kolleginnen und Kollegen
hier aus Berlin-Brandenburg!

D. Dreck: Ja vielen Dank Frau Kunkel Weber. Ich freue mich immer über
herzliche Grüße, wenn ich sie auch mit über 10000 weiteren Menschen teilen muß.
Aber eigentlich ist es ja auch mal ganz schön, mit so vielen Leuten auf einem
Platz zu stehen, die den zweiten Teil des "Hartz-Konzeptes", genannt "Agenda
2010 allesamt zum Kotzen finden.

Kunkel-Weber: Ich bin begeistert, hier auf dem Alex so viele Dinosaurier
und Plagegeister der Nation zu sehen!

D. Dreck: Jaja, schon richtig. Aber genug sind es wohl leider nicht!
Immerhin mehr, als wir letztes Jahr im Sommer, als Sie noch Mitglied der "Hartz-Kommission"
waren, auf die Straße gebracht haben. Respekt! Wo leben wir eigentlich, wenn
aus engagierten Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern Ungeziefer oder gar
Raubtiere werden, wenn Parlamentarier, die in einer hochbrisanten sozialpolitischen
Debatte kritische Positionen beziehen, als das "dreckiges Dutzend" diffamiert
werden?

D. Dreck: Die Armen Parlamentarier! Die Armen Sozis! Die offene Debatte
ist das zwar wirklich nicht, aber wer hätte das erwartet? Wenn Sie eine offene
Debatte erwarten, können Sie sicher auch einen Löwen überzeugen, ab heute Vegetarier
zu werden. Und im übrigen - wer Raubtier ist in dieser Gesellschaft, das liegt
doch klar vor Augen. Oder Frau Kunkel Weber? Anstatt das mal zu sagen, einfach
das Offensichtliche auch mal auszusprechen, heulen sie rum, weil sie aus unserer
ach so demokratischen Debatte ausgeschlossen werden.

Wissen Sie Frau Kunkel-Weber: Ich war schon immer aus dieser Debatte ausgeschlossen.
Als ich Häuser besetzt hab, warf man mich raus, als ich nicht für 1,50 in der
Stunde Arbeiten wollte - für die Arbeit hätte man Tariflohn zahlen müssen -
zahlte das Sozialamt nicht mehr.

Und in den Mistjobs, die ich gemacht hab, hab ich von ihrer glorreichen Gewerkschaft
noch nie etwas mitbekommen.

Aber Sie sind ja auch für die Facharbeiterinnen und Facharbeiter zuständig.


Und was ist mit meinen Kolleginnen und Kollegen ohne Deutschen Pass.

Hat die schon mal irgendwer gefragt ob sie so leben wollen wie sie müssen?

Also: Hören sie doch auf zu Jammern! Halten sie die Fresse!

Kunkel-Weber: Freiheit, sagte Rosa Luxenburg, Freiheit ist die Freiheit
des Andersdenkenden. Haben wir uns von dieser demokratischen Grundregel verabschiedet?

D. Dreck: Das ist aber schön, dass sie diesen wirklich guten Text zur
russischen Revolution von Rosa Lucxemburg gelesen haben. Oder haben sie sich
einfach ahnungslos dieses Zitat herausgesucht?

Weil ich an ihre Bildung glaube, glaube ich, daß sie wissen, daß dieses Zitat
ohne den Kontext ein wenig schwierig ist. Es ging ja um die Revolution, die
auch hier in Deutschland stattfinden sollte und leider gescheitert ist.

Das war ja kein Text für unsere Demokratie, wie wir sie hier erleben, das war
ein Text für den Kommunismus, ja, ein Text für die Diktatur des Proletariats!
Aber eben auch ein Text gegen die DIKTATUR DER PARTEI, an der ja dann leider
auch die russische Revolution im Laufe der Zeit zugrunde gegangen ist.

Aber, entschuldigen Sie, ich habe Sie viel zu lange aufgehalten mit diesem
kleinen Exkurs. Sagen Sie doch mal worum es eigentlich geht auf dieser Großdemonstration.
Sagen Sie es Laut!

Kunkel Weber: Wer will uns weis machen?

? Dass Arbeitslose an ihrem Schicksal selbst schuld sind?

? Dass sie in die Sozialhilfe abgedrängt werden müssen, um ihnen Arbeitsanreize
zu geben?

? Dass die Weiterbildungsträger Tausende entlassen sollen, weil sie Absahner
und Abzocker sind?

? Dass die Beschäftigten der Arbeitsämter faule Lügner und Betrüger sind?

? Dass die gesetzliche Krankenversicherung nicht mehr zu finanzieren ist und
wir deshalb das Krankengeld und unseren Zahnersatz selbst finanzieren müssen?


? Dass wir kein flächendeckendes Versorgungssystem der großen Krankenkassen
mehr brauchen?

? Dass allein die Personalkosten der Beschäftigten in der gesetzlichen Krankenversicherung
verantwortlich sind für ein desolates Gesundheitssystem?

? Dass wir bis 67 arbeiten sollen und dafür weniger Rente bekommen?

? Glauben wir das, Kolleginnen und Kollegen?

D. Dreck: Nein! Natürlich nicht Frau Weber!

Ich und die andern - wir sind ja nicht dumm. Aber haben sie nicht etwas vergessen?


Wer wollte uns weis machen:

- Dass das "Hartz-Papier" in die richtige Richtung geht?

- Dass mit der Ausweitung der Zeitarbeit durch "Personal Service Agenturen"
unglaublich viele Menschen in Arbeit kommen und man deshalb Tarifverträge abschließen
muss, die unter dem ab nächstem Jahr geltenden gesetzlichem Standard liegen?


- Dass das Glück, seine Arbeitskraft verkaufen zu dürfen, das größte und wichtigste
auf Erden ist?

- Dass man sich Freuen kann, wenn sich endlich ein Ausbeuter findet?

- Dass das alles das Ende der Geschichte sein soll?

Glauben sie das, Frau Kunkel-Weber? Gut, ich will es ihnen nicht nehmen. Ich
hab auch noch nie versucht, jemanden vom Christentum abzubringen. Fahren Sie
fort:


Kunkel-Weber: Oder liegt der Hund nicht ganz wo anders begraben? Es
ist doch richtig,

? dass 4,7 Millionen arbeitslosen Menschen gerade mal 380.000 offene Stellen
angeboten werden

? dass die Arbeitgeber zulassen, dass in diesem Land 150.000 Ausbildungsplätze
fehlen?

? Dass allein die Drohung von großen Unternehmen, ins Ausland abzuwandern, ausreicht,
sie mit Steuergeschenken zu belohnen

? Dass Topmanager Milliarden an der Börse verzocken und dafür mit Millionen-Abfindungen
belohnt werden?

? Dass die Politiker eher vor den Lobbyisten einknicken, als sie in die Verantwortung
zu nehmen?

D. Dreck: Ja Frau Kunkel Weber. Aber ein bisschen einfach machen Sie
es sich schon. Denken Sie doch mal nen Schritt weiter. Denken Sie rational.
Wenn wahnsinnig viele Arbeitsplätze fehlen, liegt es daran, dass irgenwer böse
ist oder jemand anders die falsche Politik macht? Oder daran, dass die Produktivität
gestigen ist und die Verhältnisse so bescheuert sind, dass man sich nicht einmal
drüber freuen kann?

Wie schön könnte es sein! Die Maschinen schuften und wir liegen an der Ostsee,
lesen gute Bücher, treffen unsere Freundinnen, Freunde und sonstigen Bekannschaften.
Aber nein: Statt zwei Tage-Woche oder so - die Sie eigentlich mal fordern sollten
- schuften sich die einen buchstäblich zu Tode und die anderen haben Geldprobleme.
Die die sich zu Tode schuften haben auch Geldprobleme, können aber immerhin
meist noch Auto und Miete bezahlen.

Was aber nichts daran ändert, dass die Gesellschaft so eingerichtet ist, dass
sie nach Strich und Faden beschissen werden. Das prangern sie aber nicht an,
sondern nehmen sich stattdessen ein paar beschissene Subventionen und Börsengewinne,
die man schon anprangern kann, die aber gegenüber dem Alltag das kleinere Übel
sind.

Aber erzählen sie weiter. Sie wollen bestimmt noch sagen, warum Sie im Recht
sind.

Kunkel-Weber: Und wenn wir Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter all
dies offen legen und anprangern- und das ist unsere Pflicht und unsere Aufgabe
- und dafür als Plage beschimpft werden, dann Kolleginnen und Kollegen, können
wir stolz darauf sein, Plagegeister zu sein!

D. Dreck: Ja! Wenn Sie es denn wären!

Kunkel-Weber: Wir werden kämpfen und eintreten für den Erhalt unseres
Sozialstaates, heute und in den nächsten Wochen und Monaten.

D. Dreck: Na denn. Wo ist der Kampf? Wie wärs mit Generalstreik?

Kunkel-Weber: Wir sind weder Dinosaurier noch Plagen, nein, Kolleginnen
und Kollegen. Wir sind ein Teil dieser demokratischen Gesellschaft

D. Dreck: Aha! Welche demokratische Gesellschaft meinen sie denn? Soweit
ich gehört habe, geht es in ihren Gewerkschaften ja nicht besonders demokratisch
zu.

Kunkel-Weber: und was wir zu sagen haben, sagen wir laut und deutlich.
Und denen die es nicht hören wollen, denen werden wir es zeigen:

Heute eindrucksvoll in Berlin und in den nächsten Tagen überall in der Republik:
In dramatischen Umfang werden in den großen Versorgerkassen DAK, Barmer und
AOK tausende von Arbeitsplätzen zerstört, ohne dass der Beweis angetreten wird,
dass dadurch unser solidarisches Gesundheitssystem finanzierbarer und effizienter
wird und für die Zukunft sicher ist.

Aber genau dies sind unsere Forderungen. Wir wollen eine gute und flächendeckende
Versorgung für die Patientinnen und Patienten in einer starken, paritätisch
finanzierten Krankenversicherung.

Und wir wollen gerechte und sichere Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in den Versorgerkassen, in den Arbeitsämtern, bei den gesetzlichen
Rentenversicherungsträgern und in der gesetzlichen Unfallversicherung. Dafür
werden wir kämpfen und dafür setzt ihr heute ein unübersehbares Signal.

D. Dreck: Gerechte Arbeitsbedingungen? Was soll denn das sein? Aber
darauf geben sie mir bestimmt keine Antwort.

Kunkel-Weber: Kolleginnen und Kollegen, wer in der Politik Wahlversprechen
bricht, wer die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme riskiert, wer politischen
Wortbruch begeht und nicht einsichtig ist, dass dies der falsche Weg ist, der
muss auch die Konsequenzen tragen!

D. Dreck: Welche Konsequenzen planen Sie denn?

Kunkel-Weber: Ich appelliere daher an die Einsicht der Bundesregierung,
dass es nicht um bloßen Sozialabbau gehen darf, sondern um die Sicherung sozialstaatlicher
Prinzipien. Ändert den Kurs!

D. Dreck: Schön: Sie apellieren.

Kunkel-Weber: Schafft Arbeitsplätze! Schafft sichere Arbeitsplätze!
Und dann lasst uns über sinnvolle Reformen reden!

D. Dreck: "Schafft Arbeisplätze!" - ich kann das Gelaber nicht mehr
hören!!! Wenn ich an meine Drecksjobs denke wird mir übel! Und wenn ich daran
denke wie Pleite ich bin und wie gut Sie für ihr ständiges Gelaber - Mitarbeit
in staatstragenden Reformkommissionen inklusive - bezahlt werden, muss ich Kotzen!


Aber reden sie ruhig weiter, ich höre ihnen ja eh nicht mehr zu.

Kunbkel-Weber: Wer mutige Reformen mit Leistungsabbau verwechselt,
der kann nicht mit unserer Unterstützung rechnen. Wir demonstrieren heute hier
in Berlin für Zukunftsinvestitionen in Arbeit, Bildung und Umwelt, für die Schaffung
und den Erhalt unserer Arbeitsplätze.

Und wir werden damit nicht nachlassen, Kolleginnen und Kollegen! Diese Demonstration
heute ist erst der Anfang!

D. Dreck: Schön wärs. Ich glaube aber, dass ich mich auf Sie nicht
verlassen kann. Sie haben einfach zuviel Scheiße gebaut! Wissen Sie?

Lassen Sie mich einfach in Ruhe!

Meine Freundinnen und Freunde, wir organisieren uns selber!

Wir brauchen ihre Führung nicht!

Und wenn Sie und ihre Gewerkschaft was gutes machen, werden wir versuchen,
zu radikalisieren, bauen Sie Scheiße, werde wir Sie dissen, dass Ihnen hören
und sehen vergeht!

Und seien sie sich sicher Frau Kunkel-Weber: Sie haben unser Gespräch zwar nicht
bemerkt, werden aber noch von uns hören. Genau wie all die "Arbeitgeber" und
Regierungsarschlöcher, wie auch die Sackgesichter von der Opposition.

Ihr alle werdet schon noch sehen, was ihr davon habt, wenn ihr den Klassenkompromiß
der Nachkriegs-BRD einfach so aufhebt...

[Alle Kunkelwebertexte sind aus ihrer Rede auf der "5 vor 12" Demonstration
in Berlin. Sie sind unter http://www.verdi.de/0x0ac80f2b_0x000b85dd
zu finden ]