Das Manifest der Dreißig
Im August 1931 veröffentlichten dreißig führende Mitglieder der C.N.T. das sogenannte „Manifest der Dreißig“ („Manifiesto de los Treinta“, Treintistas), das die bereits seit langem geführte Diskussion um die Strategie der C.N.T. aufgreift. Die Diskussion polarisiert sich zwischen C.N.T. und F.A.I. ... Erst auf dem Kongreß von Zaragoza (1936) kehrten die im Anschluß an die Diskussion ausgetretenen bzw. ausgeschlossenen Syndikalisten (mit Ausnahme von Pestaña, der die ‚syndikalistische Partei’ (Partido Sindicalista) gründete) zur C.N.T. zurück.
An die Genossen, an die Gewerkschaftler, an alle:
Schon eine oberflächliche Analyse der Situation unseres Landes bringt uns zu der Erkenntnis, daß sich Spanien in einer revolutionären Situation befindet, von der tiefgreifende kollektive Unruhen ausgehen. Wir dürfen weder die Bedeutung, noch die Gefahren dieses revolutionären Zeitabschnitts verkennen, denn ob wir wollen oder nicht, werden wir die Konsequenzen dieser Ereignisse zu spüren bekommen. Mit der Errichtung der Republik ist eine Klammer in der normalen Geschichte unseres Landes aufgemacht worden. Die Monarchie ist zerstört, der König von seinem Thron gestoßen, die Republik ist von den Gruppen, Parteien, Organisationen und einzelnen ausgerufen worden, die unter der Gewalt, der Diktatur und der repressiven Periode von Martinez Anido und Arlegui gelitten haben. Es ist sicher nicht schwer einzusehen, daß all diese Ereignisse eine neue Situation geschaffen haben, die sich wesentlich von dem Leben in Spanien der letzten fünfzig Jahre seit der Restauration unterscheidet. Aber wenn die eben erwähnten Ereignisse dazu führten, die alte politische Situation zu zerstören und zu versuchen, eine neue Epoche einzuleiten, haben die späteren Ereignisse unsere Ansicht bestärkt, daß wir in einer revolutionären Zeit leben. Gleichzeitig mit der Flucht des Königs und der Ausweisung des reichen Gesindels und der Blaublütler sind enorme Mengen Kapital ausgeführt worden, so daß Spanien noch weiter verarmt ist, als es schon war. Auf die Flucht der Plutokratie, der Bankiers, Finanziers und der Herren von Börse und Staat folgten unverschämte Spekulationen, die die Peseta stark entwertet und damit den Reichtum des Landes um 50 % vermindert haben.
Dieser Angriff auf die ökonomischen Interessen brachte Hunger und Elend für die meisten Spanier mit sich. Ihm folgte außerdem die verschleierte und heuchlerische Konspiration der Kuttenträger und aller, denen es egal ist, ob sie für Gott oder den Teufel eine Kerze anzünden, Hauptsache sie bleiben siegreich. Ihnen geht es vor allem darum, das Volk, das sie beleidigen, zu beherrschen, zu unterjochen und auszubeuten. Wegen dieser kriminellen Verschwörung sind die öffentlichen Kredite weitgehend lahmgelegt, die Industrie bricht zusammen. All das zieht eine Krise nach sich, wie sie dieses Land vielleicht noch niemals erlebt hat. Die Werkstätten schließen, die Fabriken entlassen ihre Arbeiter, Arbeiten müssen unterbrochen oder können erst gar nicht angefangen werden; die Nachfrage im Handel wird immer geringer, Naturalien werden Mangelware; viele Arbeiter sind Woche um Woche ohne Arbeit; in vielen Industriezweigen wird nur zwei oder drei Tage in der Woche gearbeitet, nur in einigen wenigen vier Tage. Die Arbeiter, denen es gelingt, die ganze Woche über Arbeit zu finden, bekommen für ihre sechs Tage Arbeit in der Fabrik oder in der Werkstatt lediglich 30 Prozent ihres Lohnes.
Die Verarmung des Landes ist bereits eine Tatsache, die man verdaut und akzeptiert hat. Diesem allgemeinen Elend des Volkes steht aber die Milde und das ausdrücklich legale Vorgehen der Regierung gegenüber. Obwohl alle Minister an der Revolution mit beteiligt gewesen sind, negieren sie sie, indem sie sich strikt an die Legalität halten und setzen sich lediglich dann ein, wenn es darum geht, das Volk zu unterdrücken. Sie setzen den gesamten Repressionsapparat ein, vorgeblich um die Republik zu schützen, tatsächlich aber vergießen täglich die Arbeiter ihr Blut im Kampf mit dem Staatsapparat. Das spielt sich heute nicht nur hier und dort ab, sondern überall zerstört der trockene Ton der Mauser das Leben junger und gesunder Menschen.
Unterdessen hat die Regierung auf wirtschaftlichem Gebiet nichts unternommen und wird auch nichts unternehmen. Sie hat die Großgrundbesitzer, diese Scheusale gegenüber den spanischen Bauern, nicht enteignet; sie hat nicht ein bißchen die Gewinne der Spekulanten eingeschränkt; sie hat kein Monopol zerstört; sie hat den Mißbrauch all derjenigen nicht eingeschränkt, die ausbeuten und vom Hunger, dem Schmerz und dem Elend des Volkes leben. Sie haben tatenlos zugesehen, während es eigentlich darum ging, Privilegien zu beschneiden, Ungerechtigkeiten abzuschaffen, infame und unwürdige Diebstähle zu vermeiden. Warum wundern wir uns also noch darüber? Auf der einen Seite Hochmut, Spekulation, Betrug in öffentlichen Angelegenheiten mit den kollektiven Werten, mit dem, was allen gehört, mit den sozialen Werten. Auf der anderen Seite Milde, Toleranz mit den Unterdrückern, mit den Ausbeutern, mit den Opferpriestern des Volkes, während das Volk selbst eingesperrt und verfolgt, bedroht und ausgerottet wird.
Als würdigen Abschluß sieht das dahinvegetierende, an Hunger leidende Volk, wie ihm die Revolution, die es selbst gemacht hat, entrissen wird. In den öffentlichen Ämtern, in der Justiz, dort wo die Revolution verraten werden kann, sitzen nach wie vor diejenigen, die durch die Gunst des Königs oder durch den Einfluß von Ministern dorthin gelangt sind. Diese Situation zeigt, daß die Revolution jetzt – nachdem man das alte Regime zerstört hat –, unvermeidlich und notwendig wird. Wir erkennen das alle so an: die Minister, indem sie den Konkurs der Wirtschaft konstatieren; die Presse, die den Unmut des Volkes aufzeigt, und dieses selbst, das gegen die Ungerechtigkeit rebelliert. Deshalb werden unsere Beschlüsse so wichtig sein. Im Land müssen sie mit Inhalt gefüllt werden, weil Spanien nur gerettet werden kann, wenn die Revolution gerettet wird.
Eine Interpretation
Die Situation ist für alle schwer, das Volk will seine Leiden abstreifen. Dafür bleibt nur eine Möglichkeit, die Revolution. Doch wie? Aus der Geschichte können wir lernen, daß die Revolutionen immer von mutigen Minderheiten gemacht wurden, die das Volk gegen die herrschenden Mächte angetrieben haben. Doch reicht es aus, wenn diese Minderheiten diese Rolle übernehmen, damit in einer entsprechenden Situation das herrschende Regime und die Kräfte, die es tragen, gestürzt werden können? Diese Minderheiten mit einigen angriffslustigen Militanten zusammen widersetzen sich eines Tages den herrschenden Kräften – oder nutzen eine Überraschung aus – und provozieren eine Auseinandersetzung, die zur Revolution führen kann. Eine oberflächliche Vorbereitung, einige, die mit den Auseinandersetzungen anfangen, und das genügt. Sie vertrauen den Erfolg der Revolution dem Mut einiger weniger Individuen an und dem fragwürdigen Eingriff der Massen, die ihnen auf den Straßen schon beistehen werden.
Es scheint weder nötig zu sein vorauszuschauen, noch mit etwas zu rechnen. Es reicht, sich auf die Straße zu stürzen, um den mächtigen Staat zu besiegen. Es erscheint überflüssig, daran zu denken, daß der Staat ausgezeichnete Verteidigungsmittel hat, daß es schwierig ist, sie zu zerstören, während seine Machtinstrumente, seine moralische Kraft über das Volk, seine Wirtschaft, seine Justiz, sein moralischer und ökonomischer Kredit nicht durch Raub und Schande, durch Unmoral und Unfähigkeit seiner Führer und durch Schwächung seiner Institutionen gebrochen sind. Wenn man glaubt, daß man den Staat zerstören kann, ohne daß dies alles zuvor geschieht, verleugnet man die Geschichte und die eigene menschliche Psyche. Man vergißt sie leicht und wir sind gerade im Augenblick dabei, sie zu vergessen. Damit vergißt man aber auch die eigene revolutionäre Moral. Man vertraut dem Zufall, man wartet auf das Unvorhergesehene, man glaubt an die Wunder der Revolution, als ob die Revolution ein Allheilmittel und nicht eine schwere und schmerzhafte Angelegenheit wäre, die der Mensch mit seinem Körper und Geist durchlebt. Das oben genannte eher demagogische Revolutionskonzept wird seit Jahren von allen politischen Parteien propagiert, denen es oft gelungen ist, an die Macht zu kommen. Es hat aber auch – so paradox es klingen mag – Fürsprecher in unseren eigenen Reihen, und es hat sich in bestimmten militanten Gruppen durchgesetzt. Ohne es zu merken, fallen sie auf die Demagogie herein. Wenn die Revolution unter diesen Bedingungen gemacht wird und siegreich ist, würde sie von der ersten besten politischen Partei übernommen oder aber wir würden so regieren, als seien wir eine politische Partei wie jede andere.
Können und müssen wir uns, kann und muß sich die C.N.T. diesem katastrophalen Revolutionskonzept anschließen?
Unsere Interpretation
Gegenüber diesen vereinfachenden, klassischen und gewissermaßen traumhaften Vorstellungen von Revolution, die uns im Augenblick zu einem republikanischen Faschismus führen würden – mit Jakobinermütze zwar, aber faschistisch –, steht das andere Konzept, das echte, einzig praktizierbare und verständliche, das uns zu unserem endgültigen Ziel führen kann und zweifellos auch führen wird.
Dieses Konzept sieht nicht nur eine Vorbereitung auf die aggressiven Momente vor, auf den Kampf, sondern es muss auch moralische Momente mit einbeziehen, die heute am schwierigsten zu erlangen sind. Die Revolution darf nicht nur auf mehr oder minder mutige Minderheiten bauen, sondern sie muß eine Bewegung bilden, die aus den Massen, aus der Arbeiterklasse, den Gewerkschaften und der Konföderation heraus entwickelt wird. Sie befreien sich hier alle endgültig und bestimmen das Vorgehen und den geeigneten Zeitpunkt für die Revolution. Man darf nicht glauben, die Revolution sei nur Ordnung und Methode. Das muß zwar in die Vorbereitungen und die Revolution selbst mit eingehen, aber es muß gleichzeitig auch genügend Raum für eigene Initiativen, für die Möglichkeiten des Individuums bleiben. Gegenüber dem chaotischen und zusammenhanglosen Konzept, das erstere vertreten, steht hier ein geordnetes, weitsichtiges und zusammenhängendes Konzept. Ersteres bedeutet, den Aufstand und die Revolution zu spielen; und tatsächlich die wirkliche Revolution zu verzögern.
Die Unterschiede sind offensichtlich. Wenn man darüber nachdenkt, wird man die Vor- und Nachteile beider Konzepte erkennen können. Es kann jetzt jeder selbst entscheiden, welchem Konzept er sich anschließt.
Abschließende Bemerkungen
Es ist sicher nicht schwer einzusehen, daß wir diesen Text nicht aus Vergnügen geschrieben haben oder weil unser Name auf einem veröffentlichten Papier stehen soll. Unser Handeln ist begründet. Für die Konföderation halten wir unsere, im zweiten Revolutionskonzept dargelegte Position für sehr wichtig. Wir sind Revolutionäre. Aber wir kultivieren nicht den Mythos der Revolution. Wir wollen, daß der Kapitalismus und der Staat abgeschafft werden – seien sie nun rot, weiß oder schwarz. Aber nicht, um sie durch andere zu ersetzen, sondern damit nach der ökonomischen Revolution der Arbeiterklasse jede Machtausübung verhindert wird, gleich welcher Art. Wir wollen eine Revolution, die aus den tiefen Gefühlen der Bevölkerung erwächst, so wie sie sich momentan entwickelt, und nicht eine Revolution, die von einigen wenigen Individuen serviert wird. Denn wenn diese sich durchsetzen sollten, mögen sie sich nennen wie sie wollen, würden sie sich am Tag nach dem Sieg in Diktatoren verwandeln.
Aber das ist sicherlich erstmals nur unsere Ansicht. Ist es auch die Ansicht der Mehrheit in der Organisation? Das muß so bald wie möglich geklärt werden. Die Konföderation ist eine revolutionäre Organisation, nicht eine Organisation, die das Spektakel, die Meuterei kultiviert, die Gewalt um der Gewalt willen, die Revolution um der Revolution willen setzt. Deshalb wenden wir uns an alle Militanten. Wir erinnern sie daran, daß die Lage ernst ist und daß jeder Verantwortung für seine Taten und Unterlassungen trägt. Wenn sie heute, morgen oder übermorgen an revolutionären Bewegungen teilnehmen, sollten sie nicht vergessen, daß sie der C.N.T. verpflichtet sind; eine Organisation, die das Recht hat, sich selbst zu kontrollieren, ihre eigene Aktivitäten zu überwachen, aus eigener Initiative und aus eigenem Willen heraus zu handeln. Die Konföderation bestimmt, wann und unter welchen Bedingungen sie handelt. Sie hat Persönlichkeiten und Mittel, um das durchzusetzen, was sie machen muß.
Es sollen sich alle ihrer Verantwortung in dieser Ausnahmesituation bewußt sein. Man sollte nicht vergessen: So wie die revolutionäre Tat zum Sieg führen kann – und wenn man nicht siegt, sollte man mit Würde fallen –, so führt jede sporadische revolutionäre Tat zur Reaktion und zum Sieg der Demagogie. Es sollte jetzt jeder die Position einnehmen, die er für besser hält. Die unsrige kennt Ihr jetzt. Wir werden sie überall vertreten, auch wenn sich eine gegenteilige Tendenz durchsetzen sollte.
Barcelona, August 1931
Quelle: Diego Abad de Santillán & Juan Peiró: Ökonomie und Revolution, hgg. u. übers. v. Thomas Kleinspehn, Berlin (West) 1975, S. 65–71, leicht bearbeitet. (Die Texte sind neu in der Sondernummer von ‚Cuadernos de Ruedo Ibérico’, ‚El movimiento libertario español’, Ruedo Ibérico, Paris 1974 zusammengetragen worden.) Mit freundlicher Genehmigung von Thomas Kleinspehn.